Überblickskommentar, Kapitel 11.5: Stilistische Gestaltung 297
gene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger
Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen: und doch ist dieser
Zustand - unhistorisch, widerhistorisch durch und durch - der Geburtsschooss
nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten That; und kein
Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit
erreichen, ohne sie in einem derartig unhistorischen Zustande vorher begehrt
und erstrebt zu haben“ (253, 26 - 254, 1).
Wie in seinen anderen Schriften setzt N. oft expressive Metaphern ein, die
seinem Stil ein besonderes Wirkungspotential geben (zu N.s Experimental-
Metaphorik vgl. Neymeyr 2014a, 232-254 sowie 2016b, 323-353 und 2018, 300-
303). So glaubt er im 6. Kapitel Rankes nuancenreiche Darstellungskunst pejo-
rativ mit einer Anspielung auf Beethovens Eroica charakterisieren zu können:
„es ist als ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und
zum Gebrauch von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe“ (288, 25-27). -
Die Wirkungsintensität seiner Schrift versucht N. auch durch schlagwortartig
wiederholte Hauptthesen zu maximieren. Demselben Zweck dienen die häufig
vorkommenden rhetorischen Fragen. Um den Effekt zu verstärken, wählt N.
immer wieder suggestive Formulierungen, die er auch in direkte Leseranspra-
chen integriert. Auf diese Weise inszeniert er dialogische Konstellationen mit
Frage- und Antwort-Spielen.
Im Schlusskapitel seiner Historienschrift steigert N. den appellativen oder
sogar „exhortativen“ (KSA 1, 132, 21) Duktus bis zum Extrem, wenn er die fol-
genden Fragen formuliert: „Soll nun das Leben über das Erkennen, über die
Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden
Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben
ist die höhere, die herrschende Gewalt“ (330, 30-33). Auch seine Hoffnung auf
Heilung von der historischen Krankheit durch die von ihm bereits antizipierte
„Herrschaft des Lebens“ forciert N. rhetorisch: „sie sind, an jenem Endpunkte
ihrer Heilung, wieder Menschen geworden und haben aufgehört, menschen-
ähnliche Aggregate zu sein - das ist etwas! Das sind noch Hoffnungen! Lacht
euch nicht dabei das Herz, ihr Hoffenden? / Und wie kommen wir zu jenem
Ziele? werdet ihr fragen“ (332, 30-34).
Derartige Stilmittel werden in N.s Spätschriften dann vollends dominant.
Oft steigert er sie hier bis zu manieristischer Virtuosität oder verwendet sie
sogar als rhetorische Rauschmittel, um mithilfe starker Effekte zu provozieren
(vgl. dazu Jochen Schmidt 2016, 44-48). Seinem in der letzten Lebensphase
euphorisch übersteigerten Selbstbild entspricht diese Strategie als konsequen-
te Ausdrucksform. In Ecce homo lässt N. seine Schriften Revue passieren, da-
runter auch die Unzeitgemässen Betrachtungen. Im Kapitel „Warum ich so gute
Bücher schreibe“ erklärt er: „Wie ich den Philosophen verstehe, als einen
gene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger
Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen: und doch ist dieser
Zustand - unhistorisch, widerhistorisch durch und durch - der Geburtsschooss
nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten That; und kein
Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit
erreichen, ohne sie in einem derartig unhistorischen Zustande vorher begehrt
und erstrebt zu haben“ (253, 26 - 254, 1).
Wie in seinen anderen Schriften setzt N. oft expressive Metaphern ein, die
seinem Stil ein besonderes Wirkungspotential geben (zu N.s Experimental-
Metaphorik vgl. Neymeyr 2014a, 232-254 sowie 2016b, 323-353 und 2018, 300-
303). So glaubt er im 6. Kapitel Rankes nuancenreiche Darstellungskunst pejo-
rativ mit einer Anspielung auf Beethovens Eroica charakterisieren zu können:
„es ist als ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten eingerichtet und
zum Gebrauch von träumenden Opiumrauchern bestimmt habe“ (288, 25-27). -
Die Wirkungsintensität seiner Schrift versucht N. auch durch schlagwortartig
wiederholte Hauptthesen zu maximieren. Demselben Zweck dienen die häufig
vorkommenden rhetorischen Fragen. Um den Effekt zu verstärken, wählt N.
immer wieder suggestive Formulierungen, die er auch in direkte Leseranspra-
chen integriert. Auf diese Weise inszeniert er dialogische Konstellationen mit
Frage- und Antwort-Spielen.
Im Schlusskapitel seiner Historienschrift steigert N. den appellativen oder
sogar „exhortativen“ (KSA 1, 132, 21) Duktus bis zum Extrem, wenn er die fol-
genden Fragen formuliert: „Soll nun das Leben über das Erkennen, über die
Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden
Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben
ist die höhere, die herrschende Gewalt“ (330, 30-33). Auch seine Hoffnung auf
Heilung von der historischen Krankheit durch die von ihm bereits antizipierte
„Herrschaft des Lebens“ forciert N. rhetorisch: „sie sind, an jenem Endpunkte
ihrer Heilung, wieder Menschen geworden und haben aufgehört, menschen-
ähnliche Aggregate zu sein - das ist etwas! Das sind noch Hoffnungen! Lacht
euch nicht dabei das Herz, ihr Hoffenden? / Und wie kommen wir zu jenem
Ziele? werdet ihr fragen“ (332, 30-34).
Derartige Stilmittel werden in N.s Spätschriften dann vollends dominant.
Oft steigert er sie hier bis zu manieristischer Virtuosität oder verwendet sie
sogar als rhetorische Rauschmittel, um mithilfe starker Effekte zu provozieren
(vgl. dazu Jochen Schmidt 2016, 44-48). Seinem in der letzten Lebensphase
euphorisch übersteigerten Selbstbild entspricht diese Strategie als konsequen-
te Ausdrucksform. In Ecce homo lässt N. seine Schriften Revue passieren, da-
runter auch die Unzeitgemässen Betrachtungen. Im Kapitel „Warum ich so gute
Bücher schreibe“ erklärt er: „Wie ich den Philosophen verstehe, als einen