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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0334
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308 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Cultur des 19. Jahrhunderts. In ihrer Entwicklung dargestellt (1865) folgender-
maßen: „Immense Receptivität und Vielseitigkeit, ein ungeheuerer, fast er-
schreckender Reichthum des Inhalts; aber nirgends Übersehbarkeit, Ganzheit“
(Honegger 1865, 280). - Auch in der Vorlesung „Über das Studium der Ge-
schichte“, die Jacob Burckhardt an der Universität Basel insgesamt dreimal
hielt (in den Wintersemestern 1868/69 sowie 1870/71 und 1872/73), kam bereits
diese Epochenproblematik zur Sprache: die „Unendlichkeit von ermittelten
Thatsachen“ und die Überflutung durch die Fülle „zahlloser einzelner Data“
aufgrund der ,,ungeheure[n] Breite“ der Forschungsaktivitäten (Burckhardt:
Über das Studium der Geschichte. Der Text der Weltgeschichtlichen Betrach-
tungen4, 1982, 84, 249; vgl. auch die Einleitung des Herausgebers Peter Ganz:
ebd., 54.) N. hörte diese Vorlesung Burckhardts an der Universität Basel auch
selbst, und zwar im Wintersemester 1870/71 als „wöchentlich einstündiges Col-
leg über das Studium der Geschichte“ (KSB 3, Nr. 107, S. 155).
Mehr als drei Jahrzehnte nach N.s Tod monierte der Kirchenhistoriker Karl
Heussi in seiner Schrift Die Krisis des Historismus fragwürdige Ausprägungen
des Positivismus in der Forschung: Unter diesen Prämissen seien zwar unge-
heure Mengen historischen Wissens hervorgebracht worden, allerdings ohne
hinreichende Reflexion über den eigentlichen Zweck solcher Wissensakkumu-
lation, die mithin zusehends Selbstzweckhaft erscheine. Seit dem Fin de siede
rief die inflationäre Überfülle positivistischer Daten, die auch toten Wissens-
ballast produziert, kreative Lebendigkeit behindert und die Menschen sich
selbst entfremdet, eine Krise des Historismus hervor. Heussi beschreibt dieses
Syndrom mit kulturpsychologischem Sensorium folgendermaßen: „Ganze
Menschenleben werden dem bloßen Anhäufen und Durchstöbern immer neuer
Stoffmassen geopfert, mit dem Erfolg, daß immer weitere Probleme auftau-
chen, immer neue Stoffmassen herausgebracht werden, die immer wieder die
gleiche Bearbeitung um ihrer selbst willen verlangen. Hier wird die Vergangen-
heit zum Moloch, der die Lebenden mit allen Möglichkeiten wirklichen frucht-
baren Schaffens verschlingt. Der wahre Forscher gibt sich mit Inbrunst und
mit dem Gefühl, pflichtmäßig zu handeln, diesem Dienst an der Geschichte um
der Geschichte willen hin: l’histoire pour l’histoire“ (Heussi 1932, 6).
Ernst Troeltsch, eine Zentralfigur im facettenreichen Historismus-Diskurs,
reflektierte die Phänomene des Historismus in mehreren Werken und gelangte
dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen. Einerseits betonte er im Zusam-
menhang mit dem Historismus die Problematik eines Relativismus, der ange-
sichts der Überfülle geschichtlicher Tatsachen Überdruß erzeuge und die spezi-
fischen Anforderungen der Gegenwart außer Acht lasse, andererseits jedoch
versuchte er den Begriff,Historismus41922 in seinem Werk Der Historismus und
seine Probleme (I. Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie) als
 
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