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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0342
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316 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

schäften“ eine „historistische Umwälzung durchmachen“; darüber hinaus
konstatiert er, dass der „Historismus seinen Siegeszug bis heute fortsetzt“
(ebd.). Für eine fundamentale Fehleinschätzung mit kontraproduktiven Folgen
in der Wissenschaftsgeschichte hält Eucken den Glauben des Historismus, er
verbessere die Wissenschaft durch Lebensnähe, indem er sie „vom Leben und
seiner Wandelbarkeit abhängig“ mache (ebd., 196): „Aber er mußte das Gegen-
teil erreichen. Mit seiner Relativierung der Wahrheitsidee zerstörte er die Basis
der Wissenschaft, ohne eine neue zu bieten“ (ebd.).
Das „Wesen“ des Historismus sieht Walter Eucken „in der grundsätzlichen
Historisierung unseres gesamten Wissens, Denkens und Wertens“ (ebd., 193).
Für die von ihm diagnostizierte Problematik des Relativismus bieten die Werke
N.s, auf die sich Eucken mehrfach bezieht, in verschiedenen Schaffensphasen
markante Beispiele: So definiert N. in seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, die wie UB II HL 1873 entstand,
„Wahrheit“ als „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomor-
phismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen“ (KSA 1, 880, 30-
32), für die aufgrund bloßer Gewohnheit ein illusionärer Verbindlichkeitsstatus
beansprucht wird. Und später erklärt N. in seinem Werk Zur Genealogie der
Moral: „Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches
,Erkennen“4 (KSA 5, 365, 12-14). Walter Eucken formuliert im Rahmen seiner
Historismus-Kritik den systematischen Einwand: „Alle Werte der Religion, der
Moral, der Kultur werden der Relativierung ausgeliefert. Also auch die Wahr-
heit“ (Eucken 1938, 192). Von N.s Konzepten beeinflusst sieht Eucken die
problematische Suspendierung aller „zeitlosen Kategorien“ durch Dilthey:
„Auch die Vernunft wird historisiert, die Wahrheit relativiert und er erkennt
nur eine absolute Größe an: Eben das wandelbare Leben“ (ebd., 193). In die-
sem Sinne argumentiert Eucken entschieden gegen den „Kardinalfehler“ in der
vom Historismus geprägten Ansicht Diltheys, „daß die Gültigkeit der wis-
senschaftlichen Ergebnisse von den historischen Daseinsbedingungen ab-
hängt“ (ebd., 200). Er kritisiert nachdrücklich die Tendenzen „des Lebenskul-
tus“, „die Ratio zu entthronen“ und das „Denken“ als „eine Funktion des
wechselnden menschlichen Lebens“ zu beschreiben (ebd., 202). Damit begibt
er sich in eine entschiedene Opposition zu den antirationalistischen Prämissen
des Vitalismus.
Den Konzepten des Historismus und Vitalismus, die Walter Eucken durch
N. und dessen Nachfolger paradigmatisch repräsentiert sieht, hält er seine kri-
tische Diagnose entgegen: „Der historistische Hauptsatz von der Relativität
und Zeitbedingtheit aller Erkenntnis enthält in sich einen unlösbaren Wider-
spruch. Er leugnet zwar alle verbindlichen und dauernden Wahrheiten, - er
glaubt aber zugleich, seine relativistische Grundthese als verbindliche und
 
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