Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0344
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
318 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

N.s Attacke auf hegelianisierende Geschichtskonstruktionen, die mit einem
seines Erachtens unreflektierten Kulturoptimismus einhergehen, ist insofern
zugleich im Spannungsfeld der zeitgenössischen Optimismus-Pessimismus-
Kontroversen situiert (vgl. hierzu und zu weiteren Einflussfaktoren Kapitel IL2
dieses Überblickskommentars). Einwände gegen den Hegelianismus Eduard
von Hartmanns formuliert N. auch, weil dieser die affirmative Einstellung He-
gels zum geschichtlichen Status quo teilt und sogar an Hegels Versuch an-
schließt, die systematische Notwendigkeit des Wirklichen zu deduzieren. In
UB II HL wendet sich N. entschieden gegen die Ansicht Eduard von Hart-
manns, „dass unsere Zeit nur gerade so sein müsse, wie sie ist“, und gegen
seine Tendenz, die „erschreckende Verknöcherung der Zeit“ sogar „ex causis
efficientibus [...] gerechtfertigt“ erscheinen zu lassen (314, 23-30). Außerdem
problematisiert N. in UB II HL das Verhältnis zwischen „Historie“ und Gegen-
wart, weil er durch eine Fixierung auf Vergangenheit und Historie die Chance
auf eine lebendige Gegenwart bedroht sieht. Über diese kritische Diagnose hi-
naus weist N. auch auf Risiken für die „Zukunft“ hin: Seiner Auffassung zufol-
ge kann eine übermäßige Vergangenheitsorientierung das Zukunftspotential
des Menschen nachhaltig gefährden.
Ohne den Begriff,Historismus4 in UB II HL auch selbst zu verwenden, setzt
sich N. hier intensiv mit dem Phänomen des Historismus auseinander, und
zwar nicht bloß im Hinblick auf die im 19. Jahrhundert expandierende Ge-
schichtswissenschaft. Vielmehr nimmt er „Wissenschaft“ und „Erkennen“ da-
rüber hinaus grundsätzlich ins Visier. Denn unter dem in UB II HL zentralen
Gesichtspunkt des „Lebens“ sieht N. die Historie zwar als eine Leitwissenschaft
an, aber zugleich repräsentiert sie für ihn auf exemplarische Weise die Pro-
blematik aller Wissenschaft, die er durch eine einseitige, lebensfeindliche
Ausrichtung auf das Erkennen charakterisiert sieht. Über Wissenschaft und
,Historie4 hinaus reflektiert N. insbesondere die Folgen für das kulturelle Be-
wusstsein sowie die damit verbundenen anthropologischen Konsequenzen. So
stellt er in UB II HL die Diagnose: „der moderne Mensch leidet an einer ge-
schwächten Persönlichkeit“ (279, 19-20).
Wie eingangs bereits betont, findet sich der Begriff ,Historismus4 in
UB II HL zwar noch nicht, wohl aber in nachgelassenen Notaten von 1875,
1880/81 und 1887, die den Begriff insgesamt allerdings bloß dreimal enthalten.
Im Jahre 1875 erwähnt N. nur knapp den ,„Historismus4 der Gelehrten Deutsch-
lands“ (NL 1875, 11 [4], KSA 8, 191). Zwölf Jahre später beschreibt er zunächst
den „Pessimismus als Stärke“ und anschließend den „Pessimismus
als Niedergang - worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühle-
rei, als ,tout comprendre4 und Historismus“ (NL 1887, 9 [126], KSA 12, 410). Mit
diesem „tont comprendre“ scheint er auf die Relativismus-Problematik anzu-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften