322 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Einen „Grundirrthum“ der besagten ,Stürmer und Dränger4, insbesondere
ihres Wortführers N., sieht Hillebrand in einer fundamentalen Überschätzung
der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Wissenschaft sowie ihrer Repräsentan-
ten und in einer daraus resultierenden verfehlten Argumentation: So beanstan-
det er, dass N. und seine Gesinnungsgenossen „Deutschland noch immer für
eine große Universität halten und meinen, jeder Deutsche sei ein Privatdocent
oder Professor der Geschichte und Philologie“; man könne sich jedoch leicht
davon überzeugen, dass etwa Beamte oder Offiziere durch eine „hypertrophi-
sche“ Historie keineswegs „am raschen, sicheren, dem Augenblick gemäßen
Handeln“ gehindert werden (ebd., 463). Laut Hillebrand sollte man die „Untu-
genden“ der „deutschen Gelehrten“ nicht vorschnell zum Epochenphänomen
stilisieren (ebd., 465). Er selbst betont: „Ihre Untugenden sind doch nur die
ihres Standes, nicht unserer Zeit, unseres Volkes“ (ebd., 465). Gerade das ver-
kenne N., dessen „Prämisse“ in UBII HL „viel zu weit gegriffen“ sei, denn er
spreche, „als ob die ganze deutsche Nation eine akademische Erziehung genos-
sen“ hätte, „im historischen Wissen erstickt“ und „in ihrem Handeln gelähmt“
wäre (ebd., 468). Und Hillebrand bestätigt das von N. diagnostizierte zeitgenös-
sische Epigonentum, um dann zu fragen: „aber wie mancher - Herr Nietzsche
einer der Ersten - fühlt sich nicht auch als Progone?“ (ebd., 471).
Allerdings erklärt Karl Hillebrand im Juli 1879, also fünf Jahre nach seiner
Rezension zu UB II HL, in einem Brief an N.s Verleger Ernst Schmeitzner: „Ich
nehme das größte Interesse an Nietzsche’s Person und Schriften und mache
unter der Hand soviel Propaganda dafür als möglich. Nachdem ich aber zwei
ausführliche Essays über zwei seiner Schriften (historisches Wissen und Scho-
penhauer) veröffentlicht und auf sein letztes Werk energisch hingewiesen,
dürfte es als Koteriesache herauskommen, träte ich noch einmal, anders als
parenthetisch, in seiner Sache auf. Das muß bei der großen Gegnerschaft, die
er hat, auf das Strengste vermieden werden. Dagegen werde ich ihn vorüberge-
hend so oft als möglich als einen der bedeutendsten jüngeren Schriftsteller
citiren [...]: in zehn, fünfzehn Jahren werden Nietzsche’s Schriften eine gewalti-
ge Nachfrage finden, daher seien Sie sicher und verlieren Sie den Muth nicht“
(zitiert nach Reich 2013, 460).
Elisabeth Förster-Nietzsche erwähnt (trotz ihrer Neigung zu realitätsfer-
ner Glorifizierung N.s) immerhin, dass „Herr Professor Hillebrand [...] viel an
dieser Betrachtung meines Bruders auszusetzen“ hatte, „wenngleich seine Kri-
tik in der Augsburger Allgemeinen Zeitung im Allgemeinen als günstig betrach-
tet wurde“ (Förster-Nietzsche 1897, Bd. II/l, 148). Anschließend zitiert sie einen
Passus, in dem Hillebrand die Sprache in „Herrn Nietzsche’s Schriften“ als
„meist schön und lebendig“ und die herausfordernden Gedanken „in ihrer pa-
radoxalen Haltung“ als „fast immer geistvoll“ würdigt, um sie dann als „zeitge-
Einen „Grundirrthum“ der besagten ,Stürmer und Dränger4, insbesondere
ihres Wortführers N., sieht Hillebrand in einer fundamentalen Überschätzung
der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Wissenschaft sowie ihrer Repräsentan-
ten und in einer daraus resultierenden verfehlten Argumentation: So beanstan-
det er, dass N. und seine Gesinnungsgenossen „Deutschland noch immer für
eine große Universität halten und meinen, jeder Deutsche sei ein Privatdocent
oder Professor der Geschichte und Philologie“; man könne sich jedoch leicht
davon überzeugen, dass etwa Beamte oder Offiziere durch eine „hypertrophi-
sche“ Historie keineswegs „am raschen, sicheren, dem Augenblick gemäßen
Handeln“ gehindert werden (ebd., 463). Laut Hillebrand sollte man die „Untu-
genden“ der „deutschen Gelehrten“ nicht vorschnell zum Epochenphänomen
stilisieren (ebd., 465). Er selbst betont: „Ihre Untugenden sind doch nur die
ihres Standes, nicht unserer Zeit, unseres Volkes“ (ebd., 465). Gerade das ver-
kenne N., dessen „Prämisse“ in UBII HL „viel zu weit gegriffen“ sei, denn er
spreche, „als ob die ganze deutsche Nation eine akademische Erziehung genos-
sen“ hätte, „im historischen Wissen erstickt“ und „in ihrem Handeln gelähmt“
wäre (ebd., 468). Und Hillebrand bestätigt das von N. diagnostizierte zeitgenös-
sische Epigonentum, um dann zu fragen: „aber wie mancher - Herr Nietzsche
einer der Ersten - fühlt sich nicht auch als Progone?“ (ebd., 471).
Allerdings erklärt Karl Hillebrand im Juli 1879, also fünf Jahre nach seiner
Rezension zu UB II HL, in einem Brief an N.s Verleger Ernst Schmeitzner: „Ich
nehme das größte Interesse an Nietzsche’s Person und Schriften und mache
unter der Hand soviel Propaganda dafür als möglich. Nachdem ich aber zwei
ausführliche Essays über zwei seiner Schriften (historisches Wissen und Scho-
penhauer) veröffentlicht und auf sein letztes Werk energisch hingewiesen,
dürfte es als Koteriesache herauskommen, träte ich noch einmal, anders als
parenthetisch, in seiner Sache auf. Das muß bei der großen Gegnerschaft, die
er hat, auf das Strengste vermieden werden. Dagegen werde ich ihn vorüberge-
hend so oft als möglich als einen der bedeutendsten jüngeren Schriftsteller
citiren [...]: in zehn, fünfzehn Jahren werden Nietzsche’s Schriften eine gewalti-
ge Nachfrage finden, daher seien Sie sicher und verlieren Sie den Muth nicht“
(zitiert nach Reich 2013, 460).
Elisabeth Förster-Nietzsche erwähnt (trotz ihrer Neigung zu realitätsfer-
ner Glorifizierung N.s) immerhin, dass „Herr Professor Hillebrand [...] viel an
dieser Betrachtung meines Bruders auszusetzen“ hatte, „wenngleich seine Kri-
tik in der Augsburger Allgemeinen Zeitung im Allgemeinen als günstig betrach-
tet wurde“ (Förster-Nietzsche 1897, Bd. II/l, 148). Anschließend zitiert sie einen
Passus, in dem Hillebrand die Sprache in „Herrn Nietzsche’s Schriften“ als
„meist schön und lebendig“ und die herausfordernden Gedanken „in ihrer pa-
radoxalen Haltung“ als „fast immer geistvoll“ würdigt, um sie dann als „zeitge-