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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0359
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 333

er durch den Hinweis auf die „Nietzschesche Pointierung der einzelnen Höhen-
erscheinungen der Menschheit“ (ebd., 220). Auf diese Metaphorik rekurriert
Simmel auch dann, wenn er „Aufgipfelungen des Lebens“ (ebd., 221) und „Auf-
gipfelungen über andere sich steigernden Lebens“ thematisiert (ebd., 229).
Zudem bezieht er sich auf N.s Feststellung in UBII HL, „das Ziel der Mensch-
heit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren“
(317, 24-26 - vgl. NK 317, 22-26), die in UB IIISE weitergeführt wird (vgl. KSA 1,
383, 32 - 384, 2 sowie NK 378, 22-24 und NK 382, 4-9).
Mit gewissen Ambivalenzen reagiert Simmel auf N.s teleologischen Geis-
tesaristokratismus: So erklärt er, „daß die Nietzschesche Verlegung des Wert-
akzents der Menschheit auf ihre höchsten Exemplare als Werttheorie keines-
wegs etwas Unerhörtes ist“, sondern „der leidenschaftlichste Ausdruck für das
Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fanatismus der Entwicklungshö-
he, der gegen die Bedeutung der Breite, in der die Entwicklung stattfindet,
völlig blind macht“ (Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227). Nach seiner Einschätzung
liegt diesem antidemokratischen Geistesaristokratismus N.s die Prämisse zu-
grunde, dass die „demokratische Bestrebung, die Distanz zwischen der tiefsten
und der höchsten Schicht der Persönlichkeiten zu verringern“, allein „durch
eine Entwicklungshemmung der letzteren möglich“ werde (ebd., 227). Aus der
Annahme einer solchen gesellschaftsimmanenten Komplementarität erklärt
sich Simmel demzufolge auch die Entschiedenheit, mit der N. seinen elitären
Individualismus als Stimulans kulturellen Fortschritts versteht, zu dem die
,monumentalische Historie4 laut N. einen gewichtigen Beitrag leisten könne:
indem sie nämlich das Potential „zur Erzeugung des Grossen“ fördere (317, 23).
Unter dieser Voraussetzung rückt N. Größe, Tat, Kampf, Macht und Heroismus
in den Fokus: „Die Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen,
dem, der einen grossen Kampf kämpft“ (258, 13-14).
In seinem Buch Schopenhauer und Nietzsche (1907) reagiert Georg Simmel
auf den geistesaristokratischen Individualismus N.s mit einer „kulturpsycholo-
gische [n]“ Interpretation: Die Divergenz von mediokrer Masse und Geisteshe-
ros bei N., die ein radikales Gegenmodell „zum Sozialismus“ darstelle (Simmel
1907, 2. Aufl. 1920, 220), führt Simmel auf eine „Steigerung des psychologi-
schen Unterschiedsbedürfnisses“ zurück (ebd., 218). Denn angesichts einer
„Abstumpfung“ des Empfindens durch Folgen „der modernen Individualisie-
rung“ müsse man zu „immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen“, um
„sein eigenes Leben fühlen“ zu können, und tendiere aus diesem Grund zu
Extremen (ebd., 220). Simmel selbst erblickt zwar die „zutreffendste Analogie
der Nietzscheschen Wertungsmaxime“ darin, dass man gemeinhin Künstler
„ausschließlich als Schöpfer ihrer höchsten Werke“ beurteilt und ihre me-
diokren Arbeiten in der Gesamteinschätzung ignoriert (ebd., 226-227). Aber
 
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