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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0373
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 347

lettantische Behandlung des historischen Details, aber auch die großartige
Zusammenschau mächtiger Kultureinheiten entspricht dabei der Souveränität
des ganzen Standpunktes“ (Troeltsch 1922, 507). Troeltsch bezeichnet Spengler
sogar als den „katholischen Nietzsche“ (ebd., 609). Allerdings formuliert er
eine kritische Überlegung zur „Lebensphilosophie“ generell, mit der er deren
antirationalistische Grundtendenz hinterfragt: „Kann es überhaupt eine Le-
bensphilosophie geben, die das Leben durch Leben erfaßt und nicht durch
Denken?“ (ebd., 531). Dieser Vorbehalt gilt dem Primat ,,geniale[r] Intuition“
jenseits „logischer“ Rationalität, der sich in den Prämissen von Autoren wie
„Nietzsche und Dilthey“ deutlich abzeichne (ebd., 530). Die Legitimität seines
grundsätzlichen Einwandes sieht Troeltsch exemplarisch durch das vergebli-
che, „fast tragische Ringen“ Diltheys „mit der Theorie eines bloßen Einfühlens
und Deutens“ bestätigt, die letztlich doch nicht ohne „logische Elemente“ aus-
komme (ebd., 531). Zwar konzediert Troeltsch der Lebensphilosophie, dass
„viel Wahres in ihr liegt“; zugleich aber vertritt er mit Nachdruck die Überzeu-
gung: „Weder ist das historisch zu verstehende Leben bloß einfach anzuschau-
endes ungegliedertes Leben, noch kann die Anschauung dieses Lebens auf
Klarheit über ihre logischen Kategorien und auf die Einsicht in die hierbei mit-
bedingende formende Subjektivität verzichten“ (ebd., 531).
An etlichen Stellen geht Ernst Troeltsch in seinem Historismus-Buch auf
N. ein und betont seine besondere Bedeutung für die Hochkonjunktur vita-
listischer Konzepte, die Gegenentwürfe zum zeitgenössischen Historismus-
Syndrom entfalten. Laut Troeltsch „deckte der große geisteswissenschaftliche
Revolutionär des Zeitalters, Nietzsche, die Gedankenlosigkeiten und Unfrucht-
barkeiten der bloßen fachgelehrten Historie auf“ (ebd., 26) und trug dabei
Grundtendenzen der Epoche Rechnung, in der angesichts der „Zersplitterung
und Entleerung des historischen Bildes“ eine „ungeheure Sehnsucht nach Zu-
sammenfassung des historischen Lebens zu einheitlichen Kräften und Zielen,
nach einer gegenseitigen Durchdringung der historischen Werte zu einem geis-
tigen und lebendigen Ganzen“ entstand (ebd., 5). Troeltsch konstatiert, gerade
„an Nietzsche“ schließe „heute bei uns Kulturkritik und Forderung der neuen
Synthese“ an (ebd., 140): „Von ihm geht daher die Krisis und die Selbstbesin-
nung des modernen Historismus zum großen Teile aus“, weil er „das Problem
einer Begründung der Werte aus der Historie heraus wirklich verstanden und
gefühlt hat“ (ebd., 140). Bei N. und bei Autoren wie Henri Bergson oder Georg
Simmel sieht Troeltsch den Einfluss „der Schopenhauerschen, antirationalisti-
schen Willens- und Lebensmetaphysik“ wirksam, die zwar in positivem Sinne
„Leben, Produktion und Individualität wieder in ihre Rechte“ einsetze (ebd.,
140), aber „in bezug auf die Geschichte“ zugleich eine gewisse Ambivalenz
offenbare: Denn die „antirationale Lebensphilosophie“ habe „kein Band von
 
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