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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0375
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 349

kunft“, sieht Troeltsch von N. „mit der Ablösung von Schopenhauer immer
stärker entwickelt“ (ebd., 495). Seines Erachtens hat N. „eine neue Psychologie
des Verständnisses der europäischen Geschichte gelehrt. Sie mag so einseitig
und gefährlich sein, wie sie will, sie ist in allen Stücken auch ihrerseits unend-
lich folgenreich geworden“ (ebd., 5).
In einer späteren Passage seines Werks Der Historismus und seine Probleme
betont Troeltsch in diesem Sinne die facettenreiche, auch interdisziplinär weit
ausgreifende Wirkungsgeschichte N.s, die sich in „Strömen aus Nietzsche“ in
„das allgemeine Geistesleben“ manifestiere (ebd., 506). Außerdem hebt er ge-
nerell „die ungeheuerste Wirkung“ N.s auf die unterschiedlichsten Disziplinen
und Mentalitäten hervor, um anschließend den Fokus auf die Geschichtswis-
senschaft speziell zu richten: Seines Erachtens ist „die Wirkung auf die Historie
und das historische Denken [...] gering auf die methodische Fachwissenschaft,
aber ganz außerordentlich auf die Temperatur des allgemeinen historischen
Fühlens und Denkens“ (ebd., 506). In diesem Zusammenhang erblickt Troeltsch
N.s Wirkung insbesondere in der „Erschütterung der Wertmaßstäbe und der
historischen Konventionen“ sowie in wachsendem „Mißtrauen gegen die fach-
mäßig gelehrte Historie, Kritik und Philologie“ (ebd., 506).
In seinem Buch Der Historismus und seine Überwindung, das fünf Vorträge
aus seiner letzten Lebensphase enthält und 1924 erst postum veröffentlicht
wurde, zeigt Ernst Troeltsch eine reservierte Einstellung zu der Tendenz, „un-
sere Gegenwart“ pauschal „als den intellektualistischen Individualismus, als
eklektischen Historismus“ zu verstehen (Troeltsch 1924, 46-47). Er selbst hält
„alle Skepsis und allen grundsätzlichen Relativismus“ nur für „eine scheinbar
notwendige Folge der modernen geistigen Zustände und des Historismus“, die
„von der Ethik her [...] überwunden werden“ können (ebd., 44). Allerdings hebt
er unter Rekurs auf sein Werk Der Historismus und seine Überwindung (vgl.
ebd., 76) zugleich die Bedeutung der Vorstellung von „Individualität [...] für
die Historie“ hervor, betont das Spannungsverhältnis zwischen „historisch-
individuellen Wirklichkeiten und geltenden Normen“ und deutet auch „das
historische Christentum“ als „eine vollkommen historisch-individuelle und
relative Erscheinung“ (ebd., 75). Diese undogmatische Einschätzung des Theo-
logen Troeltsch weist eine ähnliche Grundtendenz auf wie N.s Aussage in
UBII HL, das Christentum sei „unter der Wirkung einer historisirenden Be-
handlung blasirt und unnatürlich geworden“ (297, 26-28). N. verbindet sie mit
der Feststellung, dass „eine vollkommen historische, das heisst gerechte Be-
handlung“ das Christentum „in reines Wissen um das Christenthum auflöst
und dadurch vernichtet“ (297, 28-30). Analog: NL 1873, 29 [203], KSA 7, 711.
Kritische Perspektiven auf die lebensphilosophische Orientierung, die N.
in UB II HL mit seiner Abkehr vom zeitgenössischen Historismus verbindet,
 
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