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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0381
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 355

feld divergierender Tendenzen Benns unter dem Einfluss N.s vgl. Neymeyr
2008d, 477-496 und 2009d, 153-188. Zur kritischen Auseinandersetzung mit
antirationalistischen Prämissen von N. und seinen Adepten vgl. die substanti-
elle Argumentation von Heinrich Rickert [siehe oben: in der Textpassage, die
dem Abschnitt über Theodor Lessing vorangeht]. Vgl. außerdem Thomas
Manns Antirationalismus-Kritik in seinem späten Essay Nietzsche’s Philosophie
im Lichte unserer Erfahrung von 1947 (Gesammelte Werke 1990, Bd. IX, 675-
712, bes. 695-696).
Wenn Theodor Lessing fast zwei Jahrzehnte nach der Monographie Scho-
penhauer, Wagner, Nietzsche (1906) in seinem Buch Nietzsche (1925) erklärt:
„Der Genetismus, Historismus, Evolutionismus waren die Krankheiten des
Jahrhunderts“ (Lessing 1925, 29), dann treten gewisse Affinitäten zu den patho-
logisierenden Kulturdiagnosen in UB II HL hervor. Allerdings relativiert Les-
sing N.s Konzeption, indem er sie anschließend auf den Einfluss zeitgenössi-
scher Mentalitäten zurückführt, um dann seinerseits Distanz zum „Glauben an
Entwicklung“ als „der geistigen Atemluft“ N.s zu signalisieren: „Dieser große
europäische Irrtum: die Entwicklungswissenschaft der drei Truggeister Hegel,
Darwin, Marx, das war der Boden, daraus Nietzsches menschheitbessernder,
welterlösender Traum entquoll. Selten kamen Stunden, in denen dieser Boden
zu wanken begann. Später wurden sie häufiger“ (ebd., 29).
Es erscheint fraglich, ob Lessing den Antihegelianismus und die Fort-
schrittsskepsis N.s sowie seinen in UB II HL formulierten Vorbehalt gegen Ge-
schichtsteleologien und seine Kritik am Objektivitätspostulat des Historikers
Leopold von Ranke angemessen berücksichtigt. Denn Lessing setzt hier andere
Akzente, indem er zugunsten des ,Mythos4 Wissenschaftskritik vom Stand-
punkt des Vitalismus aus betreibt und (von dieser Position aus) N.s Historien-
schrift geistesgeschichtlich folgendermaßen einordnet: „Die Schrift über Ge-
schichte war der erste Flügelschlag, das erste Augenaufschlagen, das erste
staunende Infragestellen. Sie bezweifelte Newtons Wahn der Objektivität. Sie
gilt uns heute als das unsterbliche Seitenstück zu Vicos ,Prinzipi di una szienza
nuova4 (1725), womit der ungeheure Selbstbetrug der Bildungsmenschheit, der
Weltgeschichts-, Entwicklungs- und Fortschrittswahnsinn einst begann. Erst
wenn dieser Zauber wieder verschwunden sein wird, so wird die Bahn frei sein
für eine neue Art von Geschichte, nicht wirklich, aber wahr, für den ,Mythos4,
der das ,Wesen4 sieht, aber keine Wirklichkeiten zusammenlügt...“ (ebd., 30).
Karl Jaspers befasste sich in seinem Buch Psychologie der Weltanschauun-
gen (1919) erstmals mit N.s Historienschrift und initiierte damit die existentia-
listische Variante zu N.s anthropologischen und kulturkritischen Thesen. Die
mit dem Historismus verbundene Problematik des Relativismus reflektiert Jas-
pers, indem er den „Historismus“ als „Verabsolutierung“ des historischen
 
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