Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0383
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 357

se Verse zitiert N. in UB II HL (vgl. NK 269, 25-27). - Indem Jaspers vom „Weg
des Teufels“ spricht, scheint er auf den Habitus von Goethes Mephisto anzu-
spielen, der Zerstörung und anti-idealistische Entwertung beabsichtigt. In ana-
logem Sinne hebt N. in UB III SE die „skeptische Bosheit und Verneinung“ Me-
phistos hervor (KSA 1, 370, 16). Vgl. NK 370, 16; NK 371, 31-32; NK 372, 1-2;
NK 372, 7-8. Im Unterschied zu N.s Vorbehalt gegen die „schwachsichtigen mo-
dernen Augen“, die „im Verneinen immer das Abzeichen des Bösen erblicken“
(KSA 1, 372, 1-2) und dabei positive Valenzen übersehen, assoziiert Jaspers in
seinem Buch Psychologie der Weltanschauungen allerdings den Historismus
selbst mit diabolisch-radikaler Verneinung. N. hingegen bringt in UB II HL
auch den positiven Effekt von Negation zur Geltung, wenn er vom „Verneinen
des Vergangenen“ (270, 24) konstruktive Wirkungen für die Zukunft erhofft.
Denn seines Erachtens soll die ,kritische Historie4 als radikales ,Gericht4 über
die Vergangenheit durch ihr destruktives Potential letztlich das Leben fördern
(vgl. 269-270).
Analogien zu N.s Auffassung vom Primat des Lebens, dem die Historie zu
dienen habe, sind auch in Jaspers’ Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931)
zu erkennen: Hier kennzeichnet er den Historismus „als eine falsche Geschicht-
lichkeit“ und sieht ihn im Gegensatz zu einer „Weise geschichtlicher Erinne-
rung, welche als solche nicht ein bloßes Wissen von Vergangenem, sondern
gegenwärtige Lebensmacht ist“ (Jaspers, 1931, 111). Und in seinem Hauptwerk
mit dem lapidaren Titel Philosophie (1932) differenziert Jaspers im zweiten
Band unter dem Titel Existenzerhellung in diesem Sinne zwischen histori-
schem4 und geschichtlichem4 Bewusstsein (Jaspers 1932, 4. Aufl. 1973). Im
4. Kapitel „Geschichtlichkeit“ (ebd., 118-148) reflektiert er das Spannungsfeld
„Historisches Bewußtsein und geschichtliches Bewußtsein“: „Wir nennen his-
torisches Bewußtsein das Wissen von der Geschichte. [...] Dieses historische
Bewußtsein ist erfüllt in den Geschichtswissenschaften. [...] Im historischen
Bewußtsein stehen wir wissend und forschend dem Geschehenen doch immer
nur gegenüber, es betrachtend und nach seinen Ursachen befragend“; dies gel-
te sogar für „das Gegenwärtige“ (ebd., 118-119). In dieser Hinsicht lässt Jaspers’
Buch Philosophie Analogien zu N.s Historienschrift erkennen (vgl. in UB II HL:
258, 265, 266, 283, 294). Laut Jaspers ist das „historische Wissen [...] ferner auf
das Öffentliche gerichtet, auf das Soziologische, Politische, auf die Einrichtun-
gen und Sitten, auf Werke und Wirkungen“ (Jaspers 1973, 119). Mit dem so
verstandenen historischen Wissen kontrastiert er das Geschichtliche: „Etwas
anderes ist das eigentlich geschichtliche Bewußtsein, in dem das Selbst seiner
Geschichtlichkeit, als die allein es wirklich ist, inne wird. Dies geschichtliche
Bewußtsein der Existenz muß ursprünglich persönlich sein. In ihm bin ich mir
meiner in der Kommunikation mit anderem geschichtlichen Selbstsein be-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften