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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0391
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 365

als genuin philosophisch: „Die kritische Historie ist philosophische Besinnung“
(ebd., 106). So setzt für Heidegger in Abschnitt 4 der Historienschrift „eine his-
torische Betrachtung ein im Sinne der kritischen Historie (die Kritik aber ist
philosophisch; richtend, befreiend)“; dabei „trifft das Richten und Verurteilen
die Historie selbst“, und zwar „in der Absicht, das Leben (die gegenwärtige
Zukunft) von dieser Last zu befreien“, die in der „Übersättigung mit histori-
schen Kenntnissen“ besteht (ebd., 106).
Heideggers Ansicht zufolge gewinnt in UBII HL 4 „die Frage nach der Wis-
senschaft eine besondere Bedeutung“, die - „ohne daß Nietzsche dies sieht“ -
zugleich auf den ,„Wissens-‘ und ,Kenntnis‘-charakter der Historie als solcher“
zielt (ebd., 107). In diesem Zusammenhang warnt Heidegger vor der reduktio-
nistischen Sicht derer, die dazu tendieren, „den wesentlichen Wissenscharak-
ter der Historie sogleich und nur als Wissenschaft zu begreifen“ (ebd., 107). So
schreibt er dem „Intellektualismus“ eine „Verkennung des Wissens“ und eine
„Unterschätzung und Mißdeutung des Willens“ zu: „Wissenschaftliche Bildung
als solche ist unwesentlich für den Charakter, um so wesentlicher aber ist das
Wissen“, das „aus der Kraft der Besinnung und aus dem Mut zum Fragen“
entspringt (ebd., 130). Vor diesem Hintergrund charakterisiert Heidegger erstaun-
lich despektierlich den ,„Typus‘ des jetzigen ,Professors4, das Urbild der Charak-
terlosigkeit“, durch „Flucht in die Geltungsangelegenheit, völlige Wurschtigkeit
gegenüber der Wahrheitsfrage“ sowie durch den „Tanz um das papierne Kalb
der Ergebnisse4 und der Entdeckungsrekorde und das fortgesetzte ,Besserwis-
sen4.44 (ebd., 108). Diese pejorative Sicht Heideggers weist deutliche Affinitäten
zu N.s Gelehrtenkritik in UB II HL und UB III SE auf.
Obwohl Heidegger für N.s triadisches Konzept der Historie ontologisch ar-
gumentiert, indem er die „drei Arten der Historie“ essentiell auf die „drei Ver-
haltungen des menschlichen Lebens“ bezogen sieht, nämlich auf „Lebens-stei-
gerung, Lebens-bewahrung, Lebens-befreiung“ (ebd., 91), fragt er darüber
hinaus noch weiter: „Warum diese und nur diese drei Arten? Warum gehört
diese dreifache Historie zum menschlichen Leben?“ (ebd., 91). Heidegger selbst
hält diese Trias nicht für „beliebig“, weil sie ihren Ursprung in der Zeitlichkeit
hat: „Was ist Historie? Die vom Leben (menschlichen) begehrte und gebrauchte
Kenntnis des Vergangenen im Dienste der Zukunft und Gegenwart. [...] Die ur-
sprüngliche Einheit dieses Bezugs von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart
nennen wir ,Zeit444 (ebd., 91). Die Korrelationen innerhalb dieser Trias bestimmt
Heidegger als „die Zeitlichkeit und ihre Zeitigung“ (ebd., 91). Und diese „Frage
nach der ,Zeitlichkeit444 betrachtet er weder als anthropologische noch als exis-
tenzphilosophische Frage, sondern als „die ,fundamentalontologische4 Frage“,
die letztlich „nach der Wahrheit des Seyns“ fragt (ebd., 94). Obwohl die Zeit-
lichkeit in diesem Sinne „die Dreiheit der Arten“ begründet (ebd., 91), fragt
 
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