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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0392
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366 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Heidegger selbst über N.s UB II HL hinaus: „Gibt es außer diesen drei Arten
noch die objektive Historie?“ (ebd., 86). Und er fährt fort: „Gibt es daneben
noch eine besondere Art der verstehenden Historie4, welchen leitenden Ent-
wurf des Vergangenen vollzieht sie dann?“ (ebd., 87). Zugleich diagnostiziert
Heidegger hier eine zirkuläre Konstellation: „was aber sind ,Tatsachen4, wie
sollen sie Sinnzusammenhänge bewähren, wenn sie selbst erst durch jene zu
Tatsachen4 werden!“ (ebd., 87). Den skizzierten Gedankengang lässt er dann
in eine offene Perspektive münden: „Der ,Zirkel', die Frage der ,Objektivität4,
Historie als Forschung“ (ebd., 87).
Ausgehend von der Prämisse, dass sich bei „jedem großen Denker [...] die
Art des Sagens aus dem Grundzug des Fragens“ bestimmt, charakterisiert Hei-
degger den gedanklichen Gestus von UB II HL so: „Alle Fragepunkte sind über
die einzelnen Absätze des ganzen Abschnittes verteilt“; Entsprechendes gelte
„von den einzelnen Abschnitten in Bezug auf die ganze Betrachtung. / Das
Denken - nicht Fortgang auf einer Strecke, sondern das Kreisen um eine Mitte,
aus dieser und immer ursprünglicher (Wirbel'). / Dazu aber kommt der Charak-
ter der Unzeitgemäßen Betrachtung als aufrüttelnd-anstoßend, keine gelehrte
Abhandlung. Außerdem der strenge Stil noch nicht erreicht, auch nicht als For-
derung. Die Vielspältigkeit“ (ebd., 16). Zudem betont Heidegger das weite
Spektrum von N.s Begriff des ,Historischen4: In UB II HL unterscheide er nicht
zwischen „Geschichtswissenschaft, Historie und Geschichte“ (ebd., 9). Laut
Heidegger ist N.s Historienschrift „zwar betrachtend-besinnlich, aber zugleich
und unmittelbar und ausschließlich vom Willen zur Erneuerung der deutschen
Kultur bewegt“ (ebd., 212). Daher werde hier das Verständnis von Mensch und
Welt „als ,Leben4 überhaupt nicht eigens befragt und begründet“ (ebd., 212).
Vor allem das 10. Kapitel von UB II HL zeige den „Wille[n] zum unmittelbaren
Wandel schaffenden Eingreifen“ (ebd., 212). „Gemäß der ,kritischen4 Haltung
als einer befreienden“ erscheint Heidegger die Überlegung naheliegend, was
gegen das lebensfeindliche „Übermaß der Historie [...] zu tun“ sei (ebd., 212).
Mit einer Reihe kritischer Fragen problematisiert Heidegger in seinen Semi-
nar-Aufzeichnungen verschiedene Aspekte von N.s Historienschrift. So hinter-
fragt er N.s Forderung an „jeden Einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich
organisiren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt“
(333, 27-29): „Wonach bestimmt sich das Echte der Bedürfnisse“ (ebd., 213),
und - sofern sie „auf Lebensförderung und Steigerung und Erhöhung“ zielen:
„worin besteht die Höhe des ,Lebens4?“ und „Wer setzt das Hohe fest?“ (Heideg-
ger, Bd. 46, 2003, 213). Anschließend antizipiert Heidegger N.s Antwort: „der
Genius“, um dann weiterzufragen: „aber wer ist Genius?“ (ebd., 213). Und da
er bei genialen „deutschen Denker[n]44 in der geistesgeschichtlichen Tradition
,,grundverschieden[e]“ Auffassungen zur „Höhe ,des Lebens4“ gefunden hat,
 
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