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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0405
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 379

die so zum bezugslosen Simulacrum verkomme: im Spielfeld historistischer
Beliebigkeit.
Bis in Tendenzen des modernen Medienzeitalters prolongiert sich demnach
in gewisser Hinsicht N.s kritische Zeitdiagnose, „dass man die Aus-
schweifungen des historischen Sinnes, an welchen die Ge-
genwart leidet, absichtlich fördert“ (323, 3-5). Die von Baudrillard
betonte chaotische Heterogenität des Historischen ist bereits in der Krisen-
symptomatik der Moderne präsent, die N. in UB II HL entfaltet: „alles was ein-
mal war, stürzt auf den Menschen zu“ (272, 3), überfordert dabei aber die „nach
Historie Gierigen“ (279, 33), die zur mentalen Bewältigung dieser Übermacht
des Vergangenen außerstande sind und eine identitätsgefährdende, lebens-
feindliche „Uebersättigung“ durch „Historie“ (279, 2-3) erfahren. Bereits in der
Geburt der Tragödie charakterisiert N. das Spannungsfeld von Historie und My-
thos folgendermaßen: Gerade „das ungeheure historische Bedürfniss der unbe-
friedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen“
weist seines Erachtens „auf den Verlust des Mythos“ hin (KSA 1, 146, 10-13),
der als quälendes Defizit erlebt wird: „nun steht der mythenlose Mensch, ewig
hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach
Wurzeln“ (KSA 1, 146, 7-9).
Wo der Journalismus in komplizenhafter Allianz mit den Wissenschaften
durch eine „hemmungslose Popularisierung“ historischer Geschehnisse „die
Illusion der Erlebnishaftigkeit und Augenzeugenschaft“ nährt (Reschke 2008,
30), regieren Sensationslust und Aktualisierungswahn. Nur scheinbar wird da-
durch authentische Partizipation an geschichtlichen Prozessen gefördert. Ent-
gegen allen Suggestionen schafft die mediale Vermittlung von Vergangenheit
und Gegenwart gerade kein Kontinuum des Geschichtlichen oder gar ein iden-
titätsstiftendes Bewusstsein.
Vor diesem Hintergrund legt N.s Historienschrift auch eine kritische Ausei-
nandersetzung mit Perversionsformen der ,monumentalischen Historie4 nahe,
die im Falle einer popularisierenden, auf voyeuristische Effekte zielenden Dar-
stellung der Vergangenheit (etwa des Nationalsozialismus) historische Faktizi-
tät verbiegen und kollektive Erinnerung verfälschen kann (vgl. dazu Kapi-
tel II.9, Abschnitt 5 im vorliegenden Überblickskommentar). Zudem erzeugt die
mediale Beschleunigung bei der Vermittlung geschichtlicher Ereignisse Über-
sättigungseffekte und lässt das jeweils Aktuelle auch immer rascher obsolet
erscheinen (vgl. Reschke 2008, 37 und Le Rider 2001, 97). Die in UB II HL schon
von N. diagnostizierte mediale Beschleunigung gehört zu einer wachsenden
Innovationsdynamik, die Desorientierung fördert und Eigeninitiative schwächt
(vgl. 279-280): „Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedruck-
tes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmit-
 
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