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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0408
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382 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ner Auflösung des traditionellen Erkenntnissubjekts Vorschub zu leisten. Zu
Foucaults Rezeption von N.s UBII HL formuliert Greiert die kritische Rückfra-
ge, worin nach einer Verabschiedung des Humanismus zugunsten der Trieb-
sphäre gemäß weiteren Untersuchungen Foucaults noch ein Sinn von Geschich-
te liegen könnte (vgl. Greiert 2008, 92-94). Nur vier Jahre nach der Publikation
von UB II HL bezeichnet N. in Menschliches, Allzumenschliches I gerade den
„Mangel an historischem Sinn“ als den „Erbfehler aller Philosophen“ (KSA 2,
24, 24-25).
In der Rezeptionsgeschichte zu N.s CEuvre gibt es die Tendenz, durch seine
Reflexionen recht pauschal bereits die wesentlichen Konzepte des 20. Jahrhun-
derts antizipiert zu sehen, etwa auch die Ansätze der französischen Epistemo-
logen. Bei vergleichender Betrachtung der Schriften von Gaston Bachelard, Mi-
chel Foucault und N. treten allerdings auch jeweils spezifische Differenzen
zwischen N. und dem französischen Diskurs hervor, in dem sich Bachelard
und Foucault um eine „philosophische Geschichte pluraler Wissensformen“
bemühen (zu diesen Aspekten der Rezeptionsgeschichte vgl. Brusotti 2012, 74).
Noch bevor sich Foucault mit seinen archäologischen und genealogischen
Forschungen auf N.s Überlegungen zur Historie und zur Wissenschaft berief
und ihn als paradigmatischen Ausgangspunkt für eine ,Geschichte der Wahr-
heit4 betrachtete, schloss bereits Gaston Bachelard in seinem Werk L’activite
rationaliste de la physique contemporaine (1951) mit dem Konzept der „beurteil-
te[n] Geschichte“ („histoire jugee), die „Irrtum und Wahrheit, [...] Schädliches
und Fruchtbares zu unterscheiden“ habe, ausdrücklich an N.s UB II HL an, in-
dem er konstatiert: „Hier ist mehr als anderswo die nietzscheanische Meinung
richtig: ,Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene
deuten“ (Bachelard 1951, 35; deutschsprachige Version: Bachelard 1974, 212).
Der von Bachelard zitierten Aussage N.s folgt in UB II HL (293, 34 - 294, 1)
die appellativ gemeinte Feststellung: „nur in der stärksten Anspannung eurer
edelsten Eigenschaften werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissens-
und bewahrenswürdig und gross ist“ (294, 1-4). - Im Unterschied zu N. rückt
Bachelard allerdings nicht die Historie generell in den Fokus, sondern Statio-
nen der Wissenschaftsgeschichte. N.s Aussage „Nur aus der höchsten
Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangne deuten“ (293, 34 -
294, 1) interpretiert Bachelard mithin konkret in wissenschaftshistorischem
Sinne: als einen Appell, vom jeweils aktuellen Forschungsstand aus zwischen
obsoletem und relevantem Wissen zu differenzieren und allein das Bewahrens-
werte zu selektieren (Bachelard 1951, 37; Bachelard 1974, 213; vgl. dazu Brusot-
ti, 2012, 61).
Anstelle einer linearen Entwicklung setzt Bachelard die Diskontinuität in
der Wissenschaft voraus. Vor diesem Hintergrund reflektiert er einen auf-
 
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