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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0423
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Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 397

Der Geistesaristokratismus, auf dem N.s Kult des großen Individuums und
des heroischen Menschen basiert, erscheint angesichts des beginnenden in-
dustriellen Massenzeitalters als antagonistischer Reflex: als eine antimoderne
Gegenstrategie, die durch Verachtung der banalen ,Masse4 und jedweder Me-
diokrität bedingt ist. Mit dieser Grundtendenz lässt sich eine enthusiastische
Volksideologie allerdings schwerlich in Einklang bringen, zumal N. in UBIII SE
die meisten Menschen mit einer von Schopenhauer übernommenen Metapher
sogar als „Fabrikwaare“ der Natur etikettiert (KSA 1, 338, 7) und im 9. Kapitel
von UB II HL entschieden gegen eine Geschichtsschreibung „vom Standpunkte
der Massen“ polemisiert (318, 34). Geradezu despektierlich erklärt er: „Die
Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal
als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und
mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen
und endlich als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und
die Statistik!“ (320, 3-9). N.s Affinität zum individualistischen Geistesaristokra-
tismus Schopenhauers verschärft hier zugleich den Kontrast zur romantischen
Volksideologie Wagners.

9. Der Primat bürgerlicher Bildungsideale in der kritischen Kulturdiagnose
Wenn N. in den Unzeitgemässen Betrachtungen, insbesondere in UB II HL und
UB III SE, den problematischen Zustand der öffentlichen Bildungsinstitutio-
nen, vor allem der Universität, kritisch ins Visier nimmt, neigt er dazu, seine
eigenen, schichtenspezifisch präformierten Wertungsmaßstäbe zu verabsolu-
tieren. Auf diese Weise führt er die Krisensymptomatik der Epoche tendenziell
auf eine Bildungsmisere zurück. Allerdings entspricht die bildungsbürgerliche
Perspektive N.s keineswegs der Mentalität und der Lebensrealität der ganzen
Gesellschaft. Folglich kann sie auch nicht als repräsentativ für die damalige
Zeit insgesamt gelten. Zudem wird N.s Anspruch auf ,Unzeitgemäßheit4 da-
durch relativiert, dass die bürgerliche Bildungstradition sowie die aus ihr abge-
leiteten Normen und Wertvorstellungen als zeitgemäße Faktoren maßgeblich
in seine Kulturkritik hineinwirken. N.s Auseinandersetzung mit der Problema-
tik von Geschichtswissenschaft und historischer Bildung basiert also ihrerseits
auf bürgerlichen Bildungsidealen und durch sie geprägten Urteilskategorien.
Skepsis hinsichtlich der gesellschaftlichen Reichweite von N.s kritischer
Historismus-Diagnose äußerten übrigens schon zeitgenössische Autoren wie
Karl Hillebrand, der die Historienschrift 1874 rezensierte, und Georg Brandes,
der mit seinem (1899 zunächst in dänischer Sprache erschienenen) Buch
Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus die
 
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