398 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Wirkung von dessen Werk maßgeblich förderte. Hillebrand schreibt N. den
„Grundirrthum“ zu, „Deutschland noch immer für eine grosse Universität [zu]
halten“, und betont, dass nicht das Bildungsbürgertum, sondern andere Bevöl-
kerungsschichten für soziale und ökonomische Dimensionen der Gesellschaft
Verantwortung tragen, ohne durch eine „hypertrophische“ Historie daran ge-
hindert zu werden (vgl. Hillebrand 1892, Bd. 2, 306). Analog argumentiert 1888
schon Georg Brandes in seinem N.-Buch: Er hält die Annahme für unplausibel,
„daß der deutsche Kaufmannsstand oder Bauernstand, das deutsche Militär
oder die deutschen Industriellen unter einem Übermaß von historischer Bil-
dung leiden sollten“, und bezweifelt überdies die lähmende Wirkung des histo-
rischen Syndroms „für den deutschen Dichter, Forscher und Künstler“, indem
er erklärt: „Die, deren Schaffenstrieb durch das historische Wissen gehemmt
und getötet werden kann, waren sicher von vornherein so ohnmächtig und
tatunkräftig, daß die Welt durch ihre Erzeugnisse nicht bereichert worden
wäre“ (Brandes 2004, 47-48).
10. Antirationalistischer Vitalismus als Alternative zum lebensfernen
Historismus? Die Problematik einer in Ideologie umschlagenden
Ideologiekritik
Das spezifische ideologiekritische Profil der Historienschrift, in der sich N. mit
zeitgenössischen Geschichtskonzepten auseinandersetzt, verrät eine negative
Grundtendenz: Denn in seinem Blick auf die Epoche dominiert der ,Nachteil4
der Historie über den ,Nutzen4. Positive Konsequenzen versucht N. aus seiner
kritischen Diagnose insofern zu ziehen, als er einen Gegenentwurf zur zeitge-
nössischen Problemsituation präsentiert: Der Krisensymptomatik des Obsole-
ten, Lebensfernen und Dekadenten begegnet er mit einem vitalistisch inspirier-
ten Kult der Jugend, Kraft und Gesundheit. Dabei schlägt N.s Ideologiekritik
allerdings dialektisch in ein Konzept um, das auch seinerseits ideologische Im-
plikationen hat, zumal die Historienschrift ungeklärt lässt, ob die von N. beton-
te Polarität von Historie und Leben in dieser Form überhaupt berechtigt ist.
(Zum heterogenen Historismus-Diskurs und zur kontroversen Resonanz auf
UB II HL vgl. die Kapitel II.7 und II.8 im Überblickskommentar.)
Außerdem erscheint es fraglich, ob ausgerechnet von vitalistischen Grund-
tendenzen tatsächlich die kulturellen Steigerungsmöglichkeiten zu erwarten
sind, die N. in seiner Historienschrift erhofft. Die Überlegungen Sigmund
Freuds etwa geben Anlass dazu, eher Wirkungszusammenhänge anderer Art
zwischen Leben und Kultur in Betracht zu ziehen: nämlich Triebversagung und
Sublimierungsprozesse als Basis kulturschöpferischer Leistung (vgl. dazu auch
Wirkung von dessen Werk maßgeblich förderte. Hillebrand schreibt N. den
„Grundirrthum“ zu, „Deutschland noch immer für eine grosse Universität [zu]
halten“, und betont, dass nicht das Bildungsbürgertum, sondern andere Bevöl-
kerungsschichten für soziale und ökonomische Dimensionen der Gesellschaft
Verantwortung tragen, ohne durch eine „hypertrophische“ Historie daran ge-
hindert zu werden (vgl. Hillebrand 1892, Bd. 2, 306). Analog argumentiert 1888
schon Georg Brandes in seinem N.-Buch: Er hält die Annahme für unplausibel,
„daß der deutsche Kaufmannsstand oder Bauernstand, das deutsche Militär
oder die deutschen Industriellen unter einem Übermaß von historischer Bil-
dung leiden sollten“, und bezweifelt überdies die lähmende Wirkung des histo-
rischen Syndroms „für den deutschen Dichter, Forscher und Künstler“, indem
er erklärt: „Die, deren Schaffenstrieb durch das historische Wissen gehemmt
und getötet werden kann, waren sicher von vornherein so ohnmächtig und
tatunkräftig, daß die Welt durch ihre Erzeugnisse nicht bereichert worden
wäre“ (Brandes 2004, 47-48).
10. Antirationalistischer Vitalismus als Alternative zum lebensfernen
Historismus? Die Problematik einer in Ideologie umschlagenden
Ideologiekritik
Das spezifische ideologiekritische Profil der Historienschrift, in der sich N. mit
zeitgenössischen Geschichtskonzepten auseinandersetzt, verrät eine negative
Grundtendenz: Denn in seinem Blick auf die Epoche dominiert der ,Nachteil4
der Historie über den ,Nutzen4. Positive Konsequenzen versucht N. aus seiner
kritischen Diagnose insofern zu ziehen, als er einen Gegenentwurf zur zeitge-
nössischen Problemsituation präsentiert: Der Krisensymptomatik des Obsole-
ten, Lebensfernen und Dekadenten begegnet er mit einem vitalistisch inspirier-
ten Kult der Jugend, Kraft und Gesundheit. Dabei schlägt N.s Ideologiekritik
allerdings dialektisch in ein Konzept um, das auch seinerseits ideologische Im-
plikationen hat, zumal die Historienschrift ungeklärt lässt, ob die von N. beton-
te Polarität von Historie und Leben in dieser Form überhaupt berechtigt ist.
(Zum heterogenen Historismus-Diskurs und zur kontroversen Resonanz auf
UB II HL vgl. die Kapitel II.7 und II.8 im Überblickskommentar.)
Außerdem erscheint es fraglich, ob ausgerechnet von vitalistischen Grund-
tendenzen tatsächlich die kulturellen Steigerungsmöglichkeiten zu erwarten
sind, die N. in seiner Historienschrift erhofft. Die Überlegungen Sigmund
Freuds etwa geben Anlass dazu, eher Wirkungszusammenhänge anderer Art
zwischen Leben und Kultur in Betracht zu ziehen: nämlich Triebversagung und
Sublimierungsprozesse als Basis kulturschöpferischer Leistung (vgl. dazu auch