Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 399
Schnädelbach 1974, 81). - Außerdem ist die Historie im Hinblick auf das Telos
der künftigen Kultur konkreter zu bestimmen: Zu klären wäre nämlich, ob die
Funktion der Historie im Dienste des Lebens und zugunsten einer Kultur der
Zukunft nach N.s Auffassung einen Sonderstatus der Historie außerhalb der
(allererst zu schaffenden) Kultur der Zukunft impliziert, oder ob Historie als
Medium der (nach N.s Ansicht durch das Vitalprinzip zu fördernden) kulturel-
len Entwicklung ihr selbst bereits als konstitutiver Bestandteil angehört. Ab-
hängig von der jeweiligen Antwort auf diese Frage verändert sich zugleich
auch das triadische Spannungsfeld ,Leben4 - ,Historie4 - ,Kultur4 selbst.
Eine Überschätzung der vitalistischen Dimension erscheint darüber hinaus
noch in anderer Hinsicht als problematisch, und zwar durch die latente Ideolo-
gie-Anfälligkeit eines antirationalistischen Vitalismus. Denn N. verbindet sein
Konzept des ,Lebens4, das von Schopenhauers Willensmetaphysik inspiriert ist,
ausdrücklich mit einem positiven Begriff von ,Wahn4 und ,Illusion4. Dadurch
legt er ein sacrificium intellectus nahe (vgl. dazu Abschnitt 5 im vorliegenden
Kapitel II.9). Laut N. brauchen Individuum und Volk zum „Reifwerden44 einen
„umhüllenden Wahn44 (298, 27-30). Dieser projektiven Vorstellung des kultur-
historischen Prozesses schreibt N. (trotz seiner Kritik an Hegels Geschichtste-
leologie) auch seinerseits eine teleologische Perspektive ein, die mit der Erfah-
rung historischer Kontingenz indes schwerlich kompatibel ist. Zudem
verbindet sich diese spekulative Projektion bei N. mit einem problematischen
Antirationalismus. Wenn er von den „aeternisirenden Mächte[n] der Kunst und
Religion“ (330, 18) erhofft, dass sie den Menschen gegen Wissenschaft und
Historie sowie gegen die rationale Sphäre überhaupt immunisieren, dann tre-
ten deutliche Affinitäten zu dem gleichfalls antirationalistischen Grundkon-
zept seiner Geburt der Tragödie hervor: Dort setzt N. im Kontext der „apollini-
schen Cultur“ notwendige „Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen“
voraus, mit denen die antiken Griechen seines Erachtens „eine schreckliche
Tiefe der Weltbetrachtung“ überlagern mussten (KSA 1, 37, 16-19). Fraglich
bleibt allerdings, ob es unter den Rahmenbedingungen eines antirationalisti-
schen Eskapismus in der Historienschrift überhaupt gelingen kann, Ge-
schichtsbewusstsein konstruktiv mit Zukunftsperspektiven zu vermitteln.
Schnädelbach 1974, 81). - Außerdem ist die Historie im Hinblick auf das Telos
der künftigen Kultur konkreter zu bestimmen: Zu klären wäre nämlich, ob die
Funktion der Historie im Dienste des Lebens und zugunsten einer Kultur der
Zukunft nach N.s Auffassung einen Sonderstatus der Historie außerhalb der
(allererst zu schaffenden) Kultur der Zukunft impliziert, oder ob Historie als
Medium der (nach N.s Ansicht durch das Vitalprinzip zu fördernden) kulturel-
len Entwicklung ihr selbst bereits als konstitutiver Bestandteil angehört. Ab-
hängig von der jeweiligen Antwort auf diese Frage verändert sich zugleich
auch das triadische Spannungsfeld ,Leben4 - ,Historie4 - ,Kultur4 selbst.
Eine Überschätzung der vitalistischen Dimension erscheint darüber hinaus
noch in anderer Hinsicht als problematisch, und zwar durch die latente Ideolo-
gie-Anfälligkeit eines antirationalistischen Vitalismus. Denn N. verbindet sein
Konzept des ,Lebens4, das von Schopenhauers Willensmetaphysik inspiriert ist,
ausdrücklich mit einem positiven Begriff von ,Wahn4 und ,Illusion4. Dadurch
legt er ein sacrificium intellectus nahe (vgl. dazu Abschnitt 5 im vorliegenden
Kapitel II.9). Laut N. brauchen Individuum und Volk zum „Reifwerden44 einen
„umhüllenden Wahn44 (298, 27-30). Dieser projektiven Vorstellung des kultur-
historischen Prozesses schreibt N. (trotz seiner Kritik an Hegels Geschichtste-
leologie) auch seinerseits eine teleologische Perspektive ein, die mit der Erfah-
rung historischer Kontingenz indes schwerlich kompatibel ist. Zudem
verbindet sich diese spekulative Projektion bei N. mit einem problematischen
Antirationalismus. Wenn er von den „aeternisirenden Mächte[n] der Kunst und
Religion“ (330, 18) erhofft, dass sie den Menschen gegen Wissenschaft und
Historie sowie gegen die rationale Sphäre überhaupt immunisieren, dann tre-
ten deutliche Affinitäten zu dem gleichfalls antirationalistischen Grundkon-
zept seiner Geburt der Tragödie hervor: Dort setzt N. im Kontext der „apollini-
schen Cultur“ notwendige „Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen“
voraus, mit denen die antiken Griechen seines Erachtens „eine schreckliche
Tiefe der Weltbetrachtung“ überlagern mussten (KSA 1, 37, 16-19). Fraglich
bleibt allerdings, ob es unter den Rahmenbedingungen eines antirationalisti-
schen Eskapismus in der Historienschrift überhaupt gelingen kann, Ge-
schichtsbewusstsein konstruktiv mit Zukunftsperspektiven zu vermitteln.