402 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
düng, die für die Zeit der Restauration charakteristisch war, und manifestierte
sich in zahlreichen bedeutenden Werken der Geschichtsschreibung im engeren
Sinne, aber auch in Literatur- und Philosophiegeschichten, in sprachgeschicht-
lichen Großprojekten wie dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm sowie
in Urkundensammlungen, in den Monumenta Germaniae Historica, in histori-
schen Romanen und Geschichtsnovellen sowie in Geschichtsballaden. Die be-
sondere Bedeutung des Geschichtsbewusstseins prägte sich darüber hinaus
auch in einer historisierenden Baukunst aus, etwa in der Neugotik, fand in
der Historienmalerei Ausdruck und führte zum Bau zahlreicher Museen, die
historische Dokumente aller Art sammelten und konservierten. Exemplarisch
sei das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg genannt. - Bei der Kon-
junktur der ,Historie4 handelt es sich nicht um ein deutsches Spezifikum, son-
dern um eine europaweit verbreitete Tendenz, wie analoge Phänomene in
Frankreich und England erkennen lassen. - Eines von N.s Notaten aus der
Entstehungszeit der Historienschrift lautet: „Die Zahl der jährlich erscheinen-
den historischen Schriften? Dazu noch zu rechnen, dass fast die ganze Alter-
thumswissenschaft noch hinzugehört! Und überdiess in fast allen Wissenschaf-
ten beinahe die überwiegende Masse Schriften historisch ist“ (NL 1873, 29 [82],
KSA 7, 665-666).
246, 25 Gebreste] Dieser im Schweizerdeutsch noch geläufige, ansonsten weit-
gehend als antiquiert geltende Begriff bezeichnet ein ,Gebrechen4, eine dauer-
hafte gesundheitliche Beeinträchtigung. Belege für den Begriff finden sich seit
dem 11. Jahrhundert. Das althochdeutsche Verb ,gibrestan4 und das mittelhoch-
deutsche Verb ,gebresten4 hatten die Bedeutung ,Mangel haben4. Im 19. Jahr-
hundert wurde der Begriff,Gebreste4 oft auch in der allgemeineren Bedeutung
von ,Krankheit4 verwendet. - Wenn N. im vorliegenden Kontext die „histori-
sche Bildung“ als „Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit“ beschreibt und
behauptet, „dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden“
(246, 24-27), dann zeigen auch diese negativen Charakteristika eine Affinität
zum Krankheitsbegriff. N.s medizinische Metapher „historische Krankheit“ in
UB II HL 10 (vgl. 329, 331, 332) ist wie der gesamte Bildkomplex des Pathologi-
schen für die Decadence-Epoche symptomatisch. Daher bestimmt er konse-
quenterweise auch N.s kritische Epochendiagnose in der Historienschrift,
wenn er sich „gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische,
gegen die historische Krankheit“ wendet (331, 8-9). Später attestiert sich N. in
der „Vorrede“ (1886) zu Menschliches, Allzumenschliches II im Rückblick auf
UB II HL auch selbst diese „historische Krankheit“ (KSA 2, 370, 4). Zugleich
bekennt er, dass er damals von ihr nur „mühsam genesen lernte“, nach dem
langwierigen Gesundungsprozess aber keineswegs „auf ,Historie4 zu verzich-
ten“ bereit war (KSA 2, 370, 5-7). Im 188. Stück von Menschliches, Allzumensch-
düng, die für die Zeit der Restauration charakteristisch war, und manifestierte
sich in zahlreichen bedeutenden Werken der Geschichtsschreibung im engeren
Sinne, aber auch in Literatur- und Philosophiegeschichten, in sprachgeschicht-
lichen Großprojekten wie dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm sowie
in Urkundensammlungen, in den Monumenta Germaniae Historica, in histori-
schen Romanen und Geschichtsnovellen sowie in Geschichtsballaden. Die be-
sondere Bedeutung des Geschichtsbewusstseins prägte sich darüber hinaus
auch in einer historisierenden Baukunst aus, etwa in der Neugotik, fand in
der Historienmalerei Ausdruck und führte zum Bau zahlreicher Museen, die
historische Dokumente aller Art sammelten und konservierten. Exemplarisch
sei das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg genannt. - Bei der Kon-
junktur der ,Historie4 handelt es sich nicht um ein deutsches Spezifikum, son-
dern um eine europaweit verbreitete Tendenz, wie analoge Phänomene in
Frankreich und England erkennen lassen. - Eines von N.s Notaten aus der
Entstehungszeit der Historienschrift lautet: „Die Zahl der jährlich erscheinen-
den historischen Schriften? Dazu noch zu rechnen, dass fast die ganze Alter-
thumswissenschaft noch hinzugehört! Und überdiess in fast allen Wissenschaf-
ten beinahe die überwiegende Masse Schriften historisch ist“ (NL 1873, 29 [82],
KSA 7, 665-666).
246, 25 Gebreste] Dieser im Schweizerdeutsch noch geläufige, ansonsten weit-
gehend als antiquiert geltende Begriff bezeichnet ein ,Gebrechen4, eine dauer-
hafte gesundheitliche Beeinträchtigung. Belege für den Begriff finden sich seit
dem 11. Jahrhundert. Das althochdeutsche Verb ,gibrestan4 und das mittelhoch-
deutsche Verb ,gebresten4 hatten die Bedeutung ,Mangel haben4. Im 19. Jahr-
hundert wurde der Begriff,Gebreste4 oft auch in der allgemeineren Bedeutung
von ,Krankheit4 verwendet. - Wenn N. im vorliegenden Kontext die „histori-
sche Bildung“ als „Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit“ beschreibt und
behauptet, „dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden“
(246, 24-27), dann zeigen auch diese negativen Charakteristika eine Affinität
zum Krankheitsbegriff. N.s medizinische Metapher „historische Krankheit“ in
UB II HL 10 (vgl. 329, 331, 332) ist wie der gesamte Bildkomplex des Pathologi-
schen für die Decadence-Epoche symptomatisch. Daher bestimmt er konse-
quenterweise auch N.s kritische Epochendiagnose in der Historienschrift,
wenn er sich „gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische,
gegen die historische Krankheit“ wendet (331, 8-9). Später attestiert sich N. in
der „Vorrede“ (1886) zu Menschliches, Allzumenschliches II im Rückblick auf
UB II HL auch selbst diese „historische Krankheit“ (KSA 2, 370, 4). Zugleich
bekennt er, dass er damals von ihr nur „mühsam genesen lernte“, nach dem
langwierigen Gesundungsprozess aber keineswegs „auf ,Historie4 zu verzich-
ten“ bereit war (KSA 2, 370, 5-7). Im 188. Stück von Menschliches, Allzumensch-