Stellenkommentar UB II HL Vorwort, KSA 1, S. 246-247 405
ters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um sei-
ne Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt“ (KSA 3,
564, 27 - 565, 2). Mit diesem Decadence-Szenario veranschaulicht N. eine le-
bensferne Nostalgie, die aus Defätismus zu entspringen scheint. In einem
nachgelassenen Notat allerdings findet sich die folgende, von Zukunftsoptimis-
mus zeugende Absichtserklärung: „Die Vergangenheit befruchten und die Zu-
kunft zeugen - das sei mir Gegenwart!“ (NL 1883, 16 [88], KSA 10, 531). Und
fünf Jahre später notiert N. sogar: „Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfer-
tigung der Geschichte“ (NL 1888, 15 [63], KSA 13, 450). In dieser Intention
zeichnet sich eine markante Strukturanalogie zu einer Aussage in N.s Tragödi-
enschrift ab, in der von der „Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen
Phänomens“ die Rede ist (KSA 1, 152, 29-30).
247, 7-11 ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen
Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss - das heisst gegen die Zeit und
dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit - zu wir-
ken.] Zuvor hat sich N. explizit auf seine eigene Tätigkeit „als classischer Philo-
loge“ berufen (247, 7). Mit dem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4 verbindet N.
am Ende seines Vorworts4 eine entschiedene Zukunftsorientierung, die er hier
überraschenderweise ausgerechnet aus seiner Perspektive als Altphilologe ab-
zuleiten versucht. Die spezifische Funktion, die er seiner eigenen Disziplin, der
„classische[n] Philologie“, für künftige Entwicklungen zuspricht, macht er
dann allerdings erst im letzten Kapitel der Historienschrift evident. Hier analo-
gisiert er die Problemkonstellation seiner eigenen Zeit mit der Situation der
antiken „Griechen“, die „in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir
uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Ver-
gangne, an der ,Historie4 zu Grunde zu gehen“ (333, 6-9). Aus einer solchen
Übereinstimmung glaubt N. zugleich analoge therapeutische Maßnahmen ab-
leiten zu können. So betrachtet er die von den Griechen gewählten Lösungs-
strategien auch für die Moderne als vorbildlich: Mit einer heterogenen Überfül-
le kultureller Einflüsse aus unterschiedlichsten Regionen konfrontiert, lernten
die Griechen „allmählich das Chaos zu organisiren“, indem sie sich „auf
ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen [...]. So ergriffen sie wieder von sich
Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen
Orients“, sondern wurden „die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des er-
erbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvöl-
ker“ (333, 17-26).
Wenig später verbindet N. auch in UB III SE eine entschiedene Gegenwarts-
kritik und Zukunftsorientierung mit seinem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4:
Hier versucht N. „zu erklären, wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen
unsre Zeit erziehen können - weil wir den Vortheil haben, durch ihn diese Zeit
ters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um sei-
ne Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt“ (KSA 3,
564, 27 - 565, 2). Mit diesem Decadence-Szenario veranschaulicht N. eine le-
bensferne Nostalgie, die aus Defätismus zu entspringen scheint. In einem
nachgelassenen Notat allerdings findet sich die folgende, von Zukunftsoptimis-
mus zeugende Absichtserklärung: „Die Vergangenheit befruchten und die Zu-
kunft zeugen - das sei mir Gegenwart!“ (NL 1883, 16 [88], KSA 10, 531). Und
fünf Jahre später notiert N. sogar: „Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfer-
tigung der Geschichte“ (NL 1888, 15 [63], KSA 13, 450). In dieser Intention
zeichnet sich eine markante Strukturanalogie zu einer Aussage in N.s Tragödi-
enschrift ab, in der von der „Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen
Phänomens“ die Rede ist (KSA 1, 152, 29-30).
247, 7-11 ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen
Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss - das heisst gegen die Zeit und
dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit - zu wir-
ken.] Zuvor hat sich N. explizit auf seine eigene Tätigkeit „als classischer Philo-
loge“ berufen (247, 7). Mit dem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4 verbindet N.
am Ende seines Vorworts4 eine entschiedene Zukunftsorientierung, die er hier
überraschenderweise ausgerechnet aus seiner Perspektive als Altphilologe ab-
zuleiten versucht. Die spezifische Funktion, die er seiner eigenen Disziplin, der
„classische[n] Philologie“, für künftige Entwicklungen zuspricht, macht er
dann allerdings erst im letzten Kapitel der Historienschrift evident. Hier analo-
gisiert er die Problemkonstellation seiner eigenen Zeit mit der Situation der
antiken „Griechen“, die „in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir
uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Ver-
gangne, an der ,Historie4 zu Grunde zu gehen“ (333, 6-9). Aus einer solchen
Übereinstimmung glaubt N. zugleich analoge therapeutische Maßnahmen ab-
leiten zu können. So betrachtet er die von den Griechen gewählten Lösungs-
strategien auch für die Moderne als vorbildlich: Mit einer heterogenen Überfül-
le kultureller Einflüsse aus unterschiedlichsten Regionen konfrontiert, lernten
die Griechen „allmählich das Chaos zu organisiren“, indem sie sich „auf
ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen [...]. So ergriffen sie wieder von sich
Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen
Orients“, sondern wurden „die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des er-
erbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvöl-
ker“ (333, 17-26).
Wenig später verbindet N. auch in UB III SE eine entschiedene Gegenwarts-
kritik und Zukunftsorientierung mit seinem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4:
Hier versucht N. „zu erklären, wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen
unsre Zeit erziehen können - weil wir den Vortheil haben, durch ihn diese Zeit