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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0443
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 250-251 417

(WWVII, Kap. 28, Hü 403). Zu Schopenhauers Auffassung, das Leben des Men-
schen sei eine leidensvolle, zwischen Not und Langeweile wechselnde Exis-
tenz, vgl. auch NK 256, 18-26.
250,11-12 wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und
Furcht zu stehen vermag] Anspielung auf Nike, die griechische Göttin des Sie-
ges (römisch: Victoria), die allerdings nicht „auf einem Punkte“ steht, sondern
zumeist als geflügelte Überbringerin des Sieges mit Lorbeerkranz oder Palmen-
zweig dargestellt wird. In hellenistischer Zeit wurde Nike/Victoria als personifi-
zierte Göttin kultisch verehrt. Berühmte Statuen befanden sich in Olympia und
in Samothrake. - N. kombiniert hier zwei verschiedene Mythen, indem er die
Vorstellung von Nike/Victoria mit Zügen der Tyche/Fortuna verbindet. Die rö-
mische Göttin Fortuna galt als Schicksalsmacht und Göttin des Glücks: Ihr wur-
de traditionell ein umfassender Wirkungsbereich zugeordnet. Wenn Fortuna in
Skulpturen oder auf bildlichen Darstellungen auf einer Kugel steht (so etwa in
Venedig an der Punta della Dogana), dann repräsentiert sie nicht nur ihre
Macht über den Erdball. Zugleich kommt durch diese labile Position auch ihre
Unbeständigkeit und Wankelmütigkeit zum Ausdruck. Zur historischen Ent-
wicklung der Fortuna-Symbolik im Laufe der Kulturgeschichte vgl. Meyer-
Landrut 1997, 179.
250,18-20 verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte
Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben] Anspielung auf
eine Lehre des Philosophen Heraklit, der für N. besondere Bedeutung besaß.
Aristoteles überliefert in seiner Metaphysik (A6. 987 a29) Heraklits Auffassung,
dass alles Wahrnehmbare sich immer im Fluss befinde, ohne dass es darüber
ein definitives Wissen geben könne. - N. beruft sich in der Geburt der Tragödie
wiederholt auf Heraklit und würdigt ihn auch in der nachgelassenen Schrift
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Trotz seiner Wertschätzung
für Heraklit schreibt N. dem „Strome des Werdens“ im vorliegenden Kontext
allerdings eine negative Bedeutung zu, und zwar im Hinblick auf die Verfallen-
heit an die „Historie“.
251, 4-6 wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer
Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen] Die Vor-
stellung des Plastischen hat N. möglicherweise von Schiller übernommen, der
in seiner Schrift Über Anmut und Würde die „plastische Natur des Menschen“
betont (Schiller: FA, Bd. 8, 346: „Die plastische Natur des Menschen hat unend-
lich viele Hülfsmittel in sich selbst [...] sobald nur der sittliche Geist sie in
ihrem Bildungswerk unterstützen, oder auch manchmal nur nicht beunruhigen
will“). - Wie schon im vorangegangenen Satz (250, 33-34: „sei es nun ein
Mensch oder ein Volk oder eine Cultur“) überträgt N. organologische
 
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