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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0444
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418 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Vorstellungen vom Menschen auf das Volk und die Kultur. Zugleich orientiert
er sich an dem durch Herder initiierten organologischen Individualitätsdenken
(„eigenartig zu wachsen“). Im Folgenden setzt sich die organologische Meta-
phorik fort (251,16-17): „Je stärkere Wurzeln die innerste Natur eines Menschen
hat“. - Als mögliche Quelle für N.s Vorstellung der plastischen Kraft4 betrach-
tet Figal (2009,136) Jacob Burckhardts Werk Die Kultur der Renaissance in Itali-
en (1860). Mit der plastischen Kraft4 bezeichnet Burckhardt hier die Fähigkeit,
„jede Störung der inneren Harmonie“ auszugleichen und so zur Einheit mit
sich selbst zu gelangen (Burckhardt: Gesammelte Werke, 1978, Bd. 3, 338).
Als notwendig erscheint die plastische Kraft4 für die menschliche Gattung
generell, weil sie durch Kulturschöpfung die fehlende Instinktsicherheit kom-
pensiert. Insofern verweisen kulturphilosophische Reflexionen zugleich auf die
entscheidenden anthropologischen Konditionen, die N. auch in späteren Wer-
ken reflektiert: Seines Erachtens ist „der Mensch das noch nicht fest ¬
gestellte Thier“ (KSA5, 81, 21-22), das in Ermanglung einer natürlichen
Spezialisierung zum „Experimentator mit sich“ selbst werden muss (KSA 5,367,
6). „Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als
irgend ein Thier sonst“ (KSA 5, 367, 1-2). Diese kulturanthropologischen Über-
legungen, die N. in seinen Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genea-
logie der Moral entfaltet, schließen die Perspektive auf die Vielfalt mensch-
licher Möglichkeiten im Bereich der Kultur mit ein. In diesem Sinne erscheint
„das am meisten gefährdete“ Tier zugleich als ein „muthiges und reiches
Thier“ (KSA 5, 367,12). Zu N.s kulturanthropologischen Überlegungen im Span-
nungsfeld zwischen Herder und Gehlen vgl. Bertino 2008, 113-121.
Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff der Elastizität4 wiederholt im Rah-
men anthropologischer Charakterisierungen verwendet, etwa von Arnold Geh-
len, Robert Musil und Wolfgang Iser (vgl. dazu Neymeyr 2009c, 133-141). Für
Gehlen ist ,Kultur4 „ein anthropo-biologischer Begriff, der Mensch von Natur
ein Kulturwesen“; in seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
in der Welt reflektiert Gehlen über Aspekte der „Plastizität des menschlichen
Antriebslebens“, die sich aufgrund der „Unspezialisiertheit“ und „Weltoffen-
heit“ des Menschen als „biologische Notwendigkeit“ erweist (Gehlen 1986, 80,
351). Dabei rekurriert Gehlen auch auf Robert Musil, für den „der Mensch
ethisch nahezu etwas Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges“
ist (Musil 1978, Bd. II, 1072). Und für Wolfgang Iser, der sich mehrfach auf
Gehlen beruft (vgl. Iser 1991,12, 512, 513), repräsentiert die Literatur „die unge-
heuere Plastizität des Menschen, der gerade deshalb, weil er keine bestimmte
Natur zu haben scheint, sich zu einer unvordenklichen Gestaltenfülle seiner
kulturellen Prägung zu vervielfältigen vermag“ (Iser 1991, 505).
251, 20-21 Zu allem Handeln gehört Vergessen] Nach N.s Auffassung kann nur
derjenige, der sich durch „die Kunst und Kraft vergessen zu können“ in
 
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