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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0445
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 251-252 419

„einen begrenzten Horizont einzuschliessen“ vermag (330, 6-8), aktiv und
produktiv werden, weil „jedes Lebendige“ überhaupt „nur innerhalb eines Ho-
rizontes gesund, stark und fruchtbar werden“ kann (251, 29-30). Insofern avan-
ciert das Vergessen für N. zum Antidot „gegen die Ueberwucherung des Lebens
durch das Historische, gegen die historische Krankheit“ (331, 8-9). Seines Er-
achtens setzt neben dem Handeln und der kreativen Tätigkeit auch „Glück“ not-
wendigerweise „das Vergessen-können“ voraus, mithin die Fähigkeit, „während
seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“ (250, 7-9). Angesichts der Dominanz
des Historischen in seiner Epoche schreibt N. dem Vergessen einen therapeuti-
schen Entlastungseffekt zu und sieht in der Konzentration auf den Augenblick
ein wesentliches Stimulans, das Tatkraft und Kreativität ermöglicht. Schon in
einem nachgelassenen Notat von 1873 erklärt N.: „Vergessen gehört nun einmal
zu allem Schaffen“ (NL 1873, 29 [180], KSA 7, 706).
Analog zu N.s Konzept des Vergessens in UB II HL und in nachgelassenen
Notaten reflektiert später auch Robert Musil die Korrelation zwischen Erinnern
und Vergessen, etwa in seinen Kurzprosa-Texten Denkmale und Kunstjubiläum,
die er 1936 im Nachlaß zu Lebzeiten unter dem Kapiteltitel „Unfreundliche Be-
trachtungen“ publizierte (vgl. Musil 1978, Bd. II, 506-509, 516-518 und dazu
Neymeyr 2017/18, 68-69, 89-97). Vgl. auch NK264, 15-20 und NK266, 2-6.
In Kunstjubiläum charakterisiert Musil „das Vergessen“ wie N. als „eine sehr
schöpferische und inhaltsreiche Tätigkeit“, durch die wir „als jene unbefange-
ne, angenehme und folgerichtige Person erstehen, um deretwillen wir alles in
der Welt gerechtfertigt finden“ (Musil 1978, Bd. II, 518). Mit der abschließenden
Formulierung greift Musil hier bezeichnenderweise implizit auf N.s Geburt der
Tragödie zurück (vgl. KSA 1, 47, 26-27; 99, 25-26; 152, 29-30). Ausführlicher zu
den ausgeprägten Affinitäten zwischen den essayistischen Zeitdiagnosen bei
N. und Musil: Kapitel II.8 „Rezeption der Historienschrift und Stationen ihrer
Wirkungsgeschichte“ im Überblickskommentar zu UB II HL.
251, 28-30 Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur inner-
halb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden] Das Wort,Horizont4
lässt sich erst seit dem 17. Jahrhundert belegen. In eigentlichem Sinne meint
es den begrenzten Gesichtskreis (abgeleitet von griechisch öpi^civ, eingren-
zen). N. verwendet es hier und im folgenden Abschnitt mit positiver Bedeu-
tung, indem er entschieden gegen die Gefahr der Entgrenzung durch eine aus-
ufernde „Historie“ argumentiert. Den Begriff,Horizont4 verwendet N. bereits in
der Geburt der Tragödie: „erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine
ganze Culturbewegung zur Einheit ab“ (KSA 1, 145, 20-21).
252, 1-5 [...] alles das hängt [...] davon ab, dass es eine Linie giebt, die das
Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet, davon dass
 
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