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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0460
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434 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Lebens dürfe der Historiker auch die Grenze zur „freien Erdichtung“ über-
schreiten (262,15). Den „Werth“ der Geschichte führt N. ausdrücklich auf „eine
grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben“ und „ein Wei-
terdichten an gegebenen Typen“ zurück (292, 25-27). N.s Konzept, das sowohl
für die monumentalische als auch für die kritische Historie eine strategische
Konstruktion der Vergangenheit zulässt und sie sogar empfiehlt, ist mit den
Prinzipien einer modernen Geschichtswissenschaft, die sich bei der Darstel-
lung der Historie um Faktentreue bemüht, nicht kompatibel. (Vgl. dazu aus-
führlicher die kritischen Überlegungen zu N.s Geschichtskonstruktion als stra-
tegischer Fiktion in Kapitel II.9 des Überblickskommentars.) Fundamental
unterscheiden sich insofern die Geschichtsvorstellungen N.s von der Überzeu-
gung des Polybios, der für eine nüchterne, pragmatisch auf das Tatsächliche
ausgerichtete Historiographie plädiert und gerade auf dieser Basis „die politi-
sche Historie“ als „die vorzüglichste Lehrmeisterin“ betrachtet. Dieser Auffas-
sung von Polybios, die N. im vorliegenden Kontext von UB II HL referiert, ent-
sprechen auch die Ansichten, die Cicero in seiner Schrift De oratore (II, 36)
mitteilt. Hier erklärt Cicero im Anschluss an Polybios: „Historia vero testis tem-
porum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce
alia nisi oratoris, immortalitati commendatur?“ („Und die Geschichte vollends,
die vom Gang der Zeiten Zeugnis gibt, das Licht der Wahrheit, die lebendige
Erinnerung, Lehrmeisterin des Lebens, Künderin von alten Zeiten, durch wel-
che Stimmen, wenn nicht die des Redners, gelangt sie zur Unsterblichkeit?“).
In seinem Buch Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten
(1979) reflektiert Reinhart Koselleck den Topos „historia magistra vitae“ und
dessen Auflösung „im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“ (Koselleck
1979, 38; vgl. die weiterführenden Darlegungen ebd., 38-66). In diesem Zusam-
menhang geht Koselleck auch auf Ciceros Adaptation der hellenistischen Auf-
fassung von der „historia magistra vitae“ ein: Laut Cicero ist allein der Redner
(orator) dazu imstande, „der das Leben belehrenden Historie Unsterblichkeit
zu verleihen, ihren Erfahrungsschatz zu perennieren“ (ebd., 40). Dabei funk-
tionalisiert Cicero die „Geschichtskunde“ für rhetorische Praxis, in deren Rah-
men die „Historia als Beispielsammlung“ dienen kann (ebd., 41): „plena ex-
emplorum est historia“ (Cicero: de div. 1, 50). Flankierende Metaphernfelder
erweitern gemäß Ciceros Schrift De oratore zugleich noch den Funktionsbe-
reich der Historie, wenn er sie im obigen Zitat mit der Lichtmetapher (lux veri-
tatis) korreliert und ihr die Funktion einer Lehrmeisterin zuschreibt (vgl. Cice-
ro, De orat. II, c. 9, 36 u. c. 12, 51; vgl. Koselleck 1979, 41). Zu späteren
Transformationen des Topos „historia magistra vitae“ im Laufe der Kulturge-
schichte bis zu seiner Suspendierung in der Überzeugung, dass „aus der exem-
plarisch belehrenden Historie kein Nutzen mehr zu ziehen sei“ (ebd., 62), vgl.
Koselleck 1979, 38-66. Vgl. auch NK 270, 9-15 (Grillparzer u. a.).
 
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