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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0464
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438 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

KSA 1, 357, 27-28) zitiert N. noch affirmativ aus der Tragödientheorie, die Scho-
penhauer im Dritten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung II entwirft:
„Was allem Tragischen [...] den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt,
ist das Aufgehn der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen
gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht
der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin“ (WWVII, Kap. 37,
Hü 495).
Obwohl N. die Implikationen von Schopenhauers pessimistischer Willens-
metaphysik in UBIII SE noch goutiert, verwirft er sie später als einen lebens-
verneinenden „Resignationismus“ (KSA 1, 20, 4): Im „Versuch einer Selbstkri-
tik“, den N. der Neuausgabe der Geburt der Tragödie 1886 voranstellt, korreliert
er sein Konzept des Tragischen mit einem dionysischen Vitalismus und distan-
ziert sich dabei explizit von Schopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer
über die Tragödie? ,Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur
Erhebung giebt - sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 - ist das Aufge-
hen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben
könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tra-
gische Geist -, er leitet demnach zur Resignation hin‘. Oh wie anders redete
Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignatio-
nismus!“ (KSA 1, 19, 28 - 20, 4). Zu den Divergenzen zwischen Schopenhauer
und N. hinsichtlich der Konzeption des Tragischen vgl. Neymeyr 2011, 369-391.
259, 9-32 sein Gebot lautet: das was einmal vermochte, den Begriff „Mensch“
weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, das muss auch ewig vorhanden
sein, um dies ewig zu vermögen. Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzel-
nen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtau-
sende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergange-
nen Momentes noch lebendig, hell und gross sei - das ist der Grundgedanke im
Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentali-
schen Historie ausspricht. [...] Wer möchte bei ihnen jenen schwierigen Fackel-
Wettlauf der monumentalen Historie vermuthen, durch den allein das Grosse wei-
terlebt! [...]] In dieser Textpassage und in ihrer Fortsetzung entfaltet N. einen
Gedankengang, der Aussagen seiner Schrift Ueber das Pathos der Wahrheit auf-
nimmt und leicht variiert. Ueber das Pathos der Wahrheit ist die erste von insge-
samt Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, die N. in den Weihnachts-
tagen 1872 geschrieben und Cosima Wagner gewidmet hat. Mit Bezug auf den
„sittlichen Menschen“ erklärt er hier: „Sein Imperativ vielmehr lautet: das, was
einmal da war, um den Begriff ,Mensch4 schöner fortzupflanzen, das muß
auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß
sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für
mich das Größte einer vergangnen Zeit auch groß ist und daß der ahnende
 
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