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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0466
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440 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

dings nicht nur zu Schillers Metaphernkomplex. Zugleich korrespondiert sie
auch mit der elitären Imago einer „Genialen-Republik“ (317, 18), die N. von
Schopenhauer übernimmt. Vgl. dazu NK 317, 12-22.
Noch zu Lebzeiten N.s schloss Georg Brandes in einer Vorlesung mit affir-
mativem Nachdruck an N.s elitäre Konzepte an, indem er sich programmatisch
dafür aussprach, „eine Kaste hervorragender Geistesaristokraten zu züchten“
(zitiert nach Benne 2012, 414). Georg Simmel geht in seinem Buch Schopenhau-
er und Nietzsche. Ein Vortragszyklus (1907, 2. Aufl. 1920) auf den geistesaristo-
kratischen Individualismus N.s ein und charakterisiert die Opposition von me-
diokrer Masse und Geistesheros bei ihm als radikales Gegenmodell „zum
Sozialismus“ (Simmel 1920, 220), das einer „Steigerung des psychologischen
Unterschiedsbedürfnisses“ diene (ebd., 218): N.s „Pointierung der einzelnen
Höhenerscheinungen der Menschheit“ ist laut Simmel „der Ausdruck der Ab-
stumpfung eines in der Richtung der modernen Individualisierung verwöhnten
Empfindens, das zu immer gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen muß“
(ebd., 220). Auf N.s Gebirgs- und Gipfel-Metaphorik nimmt Simmel in seinen
„kulturpsychologische[n]“ Überlegungen mehrfach Bezug (vgl. ebd., 218, 220,
221, 227-229). Wenn er die „Aufgipfelungen über andere sich steigernden Le-
bens“ thematisiert (ebd., 229), dann rekurriert er damit auf N.s Überzeugung:
„das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren
höchsten Exemplaren“ (KSA 1, 317, 24-26). Zuvor erklärt Simmel bereits in sei-
nem Buch Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische
Studie (1892, 2., völlig veränderte Aufl. 1905, 5. Aufl. 1923) zum „Fortschritt
innerhalb der Geschichte“: Seine „Aufgipfelung zu einem definitiven Ziele
wird dadurch nicht illusorisch, daß die Geschichte als Ganzes nicht den Cha-
rakter des Definitiven besitzt“ (Simmel 1923, 203). Vgl. NK317, 22-26 sowie
NK 378, 22-24 und NK 382, 4-9. Laut Simmel ist die „Nietzschesche Verlegung
des Wertakzents der Menschheit auf ihre höchsten Exemplare [...] der leiden-
schaftlichste Ausdruck für das Sichemporstrecken der Menschheit, für den Fa-
natismus der Entwicklungshöhe, der gegen die Bedeutung der Breite, in der
die Entwicklung stattfindet, völlig blind macht“ (Simmel 1920, 227). Er selbst
sieht das „wirkliche Ich“ allerdings „nicht in dem Außerordentlichen“, son-
dern im „Dauernden“ und Gewohnt-Verlässlichen (ebd., 221), während N. das
Niveau des „Typus Mensch“ nach der „jeweils höchste[n] Spitze“ bestimme
(ebd., 223) und den „Höhepunkt menschlicher Qualitäten“ dabei als „Selbst-
zweck“ betrachte (ebd., 223). Vgl. dazu die ausführlicheren Passagen zu Georg
Brandes und Georg Simmel in Kapitel II.8 des Überblickskommentars.
260,17-22 In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr als der
köstlichste Bissen unserer Eigenliebe, wie ihn Schopenhauer genannt hat, es ist
der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zei-
 
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