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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0469
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 260 443

Felix Mendelssohn Bartholdy und gegen den Musikkritiker Eduard Hanslick
bereits 1869 die „nichtige Gebildetheit“ mit der „wahren Bildung“ kontrastiert
(vgl. GSD VIII, 313-315). Vgl. dazu ausführlicher NK 334, 9-14 (auch zur antise-
mitischen Grundierung von Wagners Polemik). - Im Hinblick auf den Gegen-
satz zwischen ,Bildung4 und ,Gebildetheit4 bei N. sind UB I DS 1-2 und UB III SE
1-2, 4-6, 8 besonders aussagekräftig. In UB I DS stellt N. die „wirkliche ächte
deutsche Bildung“ explizit der bloßen „Gebildetheit“ (KSA 1, 161, 2-3) insbe-
sondere der „B i 1 d u n g s p h i 1 i s t e r“ (KSA 1, 165, 6) gegenüber. Einerseits
grenzt er die „grossen heroischen Gestalten“ der Kultur, die ernsthaft „Su-
chende waren“ (KSA 1,167,12,15), von den bloßen „Philistern“ ab, die sich
mit hohler Prätention und naiver Selbstgefälligkeit auf ihr kulturelles Bil-
dungsgut wie auf einen stabilen, permanent verfügbaren Besitz berufen (vgl.
dazu NK 326, 13-14). Andererseits stellt er die Geistesheroen den unkreativen,
in passiver Resignation verharrenden „Epigonen“ gegenüber, die nur zu steriler
Imitation bedeutender Vorgänger imstande sind (vgl. NK 450, 8-13). Nach N.s
Ansicht behindert die Mentalität sowohl der Philister als auch der Epigonen
die Bewältigung der zeitgenössischen Krisensituation und damit zugleich eine
produktive kulturelle Entwicklung. Vgl. dazu NK 165, 6 und NK 169, 16-18.
In UB III SE sieht N. die zeitgenössische Kultur sowie die „jetzige Kunst
und Wissenschaft“ einer „kommenden Barbarei“ entgegentreiben (KSA 1, 366,
17-18), weil die „gelehrten Stände“ inzwischen ihre traditionelle Orientierungs-
funktion als „Leuchtthürme“ eingebüßt haben (KSA 1, 366, 14-15). Seine kriti-
sche Kulturdiagnose lautet: „Der Gebildete ist zum grössten Feinde der Bildung
abgeartet, denn er will die allgemeine Krankheit weglügen und ist den Ärzten
hinderlich“ (KSA 1, 366, 18-20). Vor diesem Hintergrund entfaltet N. in UB III
SE 6 auch eine luzide Gelehrtensatire (KSA 1, 394, 20 - 399, 34). Zu weiteren
Differenzierungen der Relation zwischen ,Bildung4 und ,Gebildetheit4 bei N.
vgl. vor allem die Ausführungen zu NK 161, 2-3 (mit zahlreichen Belegen). Vgl.
außerdem NK 275, 2-3 sowie NK 307, 5-13, NK 366, 18-20 und NK 450, 8-13.
N.s kulturkritische Perspektive auf die Problematik einer „modisch gewor-
denen Gebildetheit“ ist zugleich biographisch grundiert, und zwar durch die
Resignation des Universitätsprofessors N., der im eigenen Terrain der Klassi-
schen Philologie problematische Auswirkungen einer sterilen, statisch-rück-
wärtsorientierten „Gebildetheit“ diagnostiziert. Bezeichnenderweise artikuliert
N. schon am 15. Dezember 1870, nur anderthalb Jahre nach Amtsantritt an der
Universität Basel und damit mehrere Jahre vor der Publikation seiner Unzeitge-
mässen Betrachtungen, den Wunsch, das „Joch“ seiner Basler Professur abzu-
werfen, um einen „Bruch mit der bisherigen Philologie und ihrer Bildungs-
perspektive“ zu vollziehen (KSB 3, Nr. 113, S. 165) und sich dann engagiert
in den Dienst von Wagners kulturreformatorischem Großprojekt stellen zu kön-

nen.
 
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