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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0474
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448 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges“ (KSA 1, 879, 1-2)
als Basis seiner Bezeichnung und damit als Fundament der Begriffsbildung.
Gemäß der Argumentation, die N. in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne entfaltet, tragen auch diese Voraussetzungen dazu
bei, dass die Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit ebenso zwei-
felhaft erscheint wie das traditionelle Wahrheitspostulat. Polybios und Cicero
hingegen betonten einen Anspruch auf historische Wahrheit (vgl. dazu NK 258,
19-21).
262,1-3 Effect machen [...] „Effect an sich“] Am Komponisten Meyerbeer hatte
Wagner die Verselbständigung des „Effekts“ im Sinne einer „Wirkung ohne Ur-
sache“ kritisiert, ihm mithin oberflächliche Effekthascherei vorgeworfen. (N.
übernimmt diese Prägung wörtlich in 263, 1-2.) Für seine eigene Musik nahm
Wagner hingegen eine spezifische Innerlichkeit und emotionale Tiefendimen-
sionen in Anspruch. Im Hinblick auf seine Polemik gegen Meyerbeer vgl. das
Kapitel IV.4 im Überblickskommentar zu UBIV WB sowie NK 474, 3-11 und
NK 489, 19-21. Später wandte N. diese Kritik gegen Wagner selbst, indem er
ihm vorwarf, es komme ihm nur auf möglichst starke Wirkung an, auf den
„Effekt“ um jeden Preis. In seiner Schrift Der Fall Wagner treibt N. diese folgen-
reiche Diagnose von Wagners Kompositionsstrategien bis zum polemischen
Höhepunkt. Der Fall Wagner wurde seit der Decadence-Zeit auch von Schrift-
stellern rezipiert und literarisch transformiert: Ein produktiver Reflex der von
N.s Wagner-Bild geprägten Wirkungsästhetik und Decadence-Motivik reicht bis
in Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig und Robert Musils Roman Der
Mann ohne Eigenschaften.
Lange vor der Spätschrift Der Fall Wagner lässt schon UB IV WB eine ten-
denziell kritische Perspektive auf den Komponisten erkennen, den N. im 8. Ka-
pitel so charakterisiert: „Wirkung, unvergleichliche Wirkung - wodurch? auf
wen? - das war von da an das rastlose Fragen und Suchen seines Kopfes und
Herzens. Er wollte siegen und erobern, wie noch kein Künstler und womöglich
mit Einem Schlage zu jener tyrannischen Allmacht kommen, zu welcher es ihn
so dunkel trieb. Mit eifersüchtigem, tiefspähendem Blicke mass er Alles, was
Erfolg hatte, noch mehr sah er sich Den an, auf welchen gewirkt werden muss-
te“ (KSA 1, 472, TI - 473, 2). Zu den Aspekten von N.s ambivalentem Verhältnis
zu Wagner vgl. Kapitel IV.3 im Überblickskommentar zu UB IV WB.
262,16-18 es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit
und einer mythischen Fiction gar nicht zu unterscheiden vermögen] Während N.
hier selbst die essentielle Differenz zwischen Faktizität und Fiktionalität im
Blick hat, mithin auch die Problematik, dass sich Geschichte durch ästhetische
Überformung nach subjektiven Vorstellungen sogar „der freien Erdichtung“
 
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