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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0475
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 262 449

annähern kann (262, 15), ändert sich seine Perspektive in einer späteren Text-
passage: Dort deutet er nämlich sogar das Objektivitätspostulat zu einem Prin-
zip ästhetischer Komposition um, das dann „ein künstlerisch wahres, nicht ein
historisch wahres Gemälde“ entstehen lasse (290, 15-16). Wenn N. nun sogar
„eine Geschichtsschreibung“ für möglich hält, „die keinen Tropfen der gemei-
nen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das
Prädicat der Objectivität Anspruch machen dürfte“ (290, 24-26), dann funktio-
nalisiert er eine durch subjektive Perspektiven und Zwecke geleitete Konstruk-
tion der Geschichte zum Medium von Lebensinteressen um. In diesem Sinne
behauptet er: „nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet,
also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhalten oder
sogar wecken“ (296, 18-21). Vgl. dazu die kritische Argumentation im Über-
blickskommentar: Kapitel II.9, Abschnitt 5 „Historische Faktizität oder strategi-
sche Geschichtskonstruktion: Die problematische Fiktionalisierung der Geschich-
te“. Später hinterfragt N. das Fundament der Geschichte als solches radikal:
So entwirft er in einem nachgelassenen Notat von 1887 kritische Überlegungen
zur Erkenntnis-Hemmung durch die Moral und beanstandet dabei ausdrück-
lich die „Fälschung der Historie“ sowie der „Psychologie“ und der „Erkennt-
nißtheorie“ (NL 1887, 7 [8], KSA 12, 293). Und am 23. Februar 1887 notiert N. in
einem Brief an Franz Overbeck: „Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis zur Fra-
ge, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? -
etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht,feststand?4 - “ (KSB 8,
Nr. 804, S. 28).
An das vitalistische Telos in N.s Konzept der Historie (vgl. 290-296)
schließt Theodor Lessing mit seinem Buch Geschichte als Sinngebung des Sinn-
losen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos (1919) affirmativ an.
Symptomatisch erscheint hier schon die Affinität des Untertitels zum Titel von
N.s Erstlingswerk. Analog zu Darlegungen N.s in UB II HL vertritt Lessing die
Auffassung, die Geschichte verwirkliche über die bloße „Mechanik“ des „ob-
jektive[n] Geschehen[s]“ hinaus „Illusionen“ und „Wunscheinblendungen“, so
dass „ein Kunst- und Traumwerk“ entstehe: „die sinnvolle Welt überwirklichen
Ereignens“ (Lessing, 4. Aufl. 1927, 89). Auf dem Fundament lebensphilosophi-
scher Prämissen behauptet Lessing sogar die „mythische Natur der Geschich-
te“ (ebd., 298-299) und gebraucht damit das Adjektiv, das schon N. im vorlie-
genden Kontext einsetzt, wenn er Geschichte mit einer „mythischen Fiction“
in Verbindung bringt. Die Distanz zum Postulat historischer Objektivität, aus
der N. entschieden für eine strategische Funktionalisierung der Geschichte plä-
diert und ästhetische Wahrheit4 gegen historische Faktizität ausspielt (vgl. 290,
15-16), wird insofern auch in Lessings Darlegungen evident. (Zur Rezeption von
UB II HL durch Theodor Lessing vgl. die ausführlichere Lessing-Passage in
Kapitel II.8 des Überblickskommentars.)
 
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