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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0477
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 262-264 451

Geburt der Geschichte aus dem Mythos (1919) reflektiert Lessing (analog zu N.
und Schopenhauer) das zur Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen die-
nende Ressentiment, mit dem die „Masse der Menschen“ auf Leistungen über-
legener Geister reagiert. Theodor Lessing selbst beschreibt dieses Verhalten
mediokrer Naturen sogar als ein „massenpsychologische[s]“ Phänomen: „Ge-
winnt aber der einzelne Mensch übermächtige Bedeutung, dann empfindet die
Masse durchaus nach dem chinesischen Sprichwort: ,Der große Mensch ist ein
großes Unglück/ Sie würde am liebsten durch Scherbengerichte alles Unbe-
queme und Gewissenaufpeitschende verbannen“ (Lessing: Geschichte als
Sinngebung des Sinnlosen, 4. Aufl. 1927, 276). Und wenig später konstatiert
er: „Die Minderwertigkeitsgefühle der Gruppe suchen nach dem Ausweg, dem
Störenden irgendetwas Herabminderndes anhängen zu können. [...] Die Schwa-
chen ruhen nicht eher, als bis sie das Überragende fortgeleugnet oder vernied-
licht, verbürgerlicht, vermittelmäßigt und in irgendeiner Hinsicht kleingekriegt
haben, was in den meisten Fällen gelingt“ (ebd., 277).
Anschließend stellt Theodor Lessing einen konkreten Bezug zur Historie
her, indem er „mit besonderem Nachdruck“ darauf hinweist, „daß unsere gan-
ze heutige Geschichtswissenschaft im Dienst dieser Niedrigkeitsinstinkte arbei-
tet, insofern sie nicht Bildsäulen des Glaubens errichtet, sondern Tempel zer-
schlägt und Bausteine analysiert“ (ebd., 277-278). Auch N.s Hinweis auf das
„Maskenkleid, in dem sich“ der „Hass“ mediokrer Geister „gegen die Mächti-
gen und Grossen ihrer Zeit für gesättigte Bewunderung der Mächtigen und
Grossen vergangener Zeiten ausgiebt“ (264,16-18), findet ein Pendant bei Les-
sing. Denn er reflektiert auch die andersgearteten Fälle, in denen „der Versuch,
das Überragende zum Durchschnittsbewußtsein herabzumindern, nicht ge-
lingt“ und einen inversen Vorgang zur Folge hat: Mit,hündischem4 Gestus „un-
terwerfen sich“ die Menschen dann, wenn „sie einsehen, daß Widerstand sich
gegen sie selber kehrt. Man beginnt, jeden Starken noch stärker zu machen,
als er eigentlich ist“, und stilisiert die „Erfolgreichen über alles Menschliche“
(ebd., 278). „Die Macht, die Stärke, der nicht mehr rückgängig zu machende
Erfolg werden historisch eingesargt und damit anerkannt“ (ebd., 278).
Die im Zusammenhang mit der ,monumentalischen Historie4 schon von N.
hervorgehobene immanente Dialektik einer durch Ressentiment pervertierten
Erinnerungskultur reflektiert Jahrzehnte später auch Robert Musil in seinem
Nachlaß zu Lebzeiten (1936): Hier entfaltet der Kurzprosa-Text Denkmale im
Kapitel „Unfreundliche Betrachtungen“, das schon durch seinen Titel auf N.s
Unzeitgemässe Betrachtungen verweist und ebenfalls eine facettenreiche Kul-
turkritik formuliert (vgl. Musil 1978, Bd. II, 506-509), eine satirische Perspekti-
ve auf Denkmäler prominenter Persönlichkeiten. Denn dass „gerade großen
Männern Denkmale gesetzt werden“ (ebd., 509), inszeniert die dialektische
 
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