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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0478
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452 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Schlusspointe in Denkmale als Resultat eines perfiden Racheakts. Demnach
liegt eine „ganz ausgesuchte Bosheit“ darin, den Memoria-Anspruch ausge-
rechnet im Medium des Erinnerungskults zu negieren: Da man den berühmten
Persönlichkeiten der Vergangenheit „im Leben nicht mehr schaden kann,
stürzt man sie gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des
Vergessens“ (ebd., 509). Vgl. dazu die Textanalyse in Neymeyr 2017/18, 89-97.
Strukturanalog zu N.s Diagnose einer von Ressentiment bestimmten Ab-
wehr großer Individuen durch inferiore Geister beschreibt Musil hier Strate-
gien, um kulturelles Gedächtnis im Einzelfall zu konterkarieren. Sie sind vom
Interesse mediokrer Naturen bestimmt, bedeutsame Leistungen anderer zu ni-
vellieren. Dem von Musil beschriebenen Absturz der Denkmäler in geschichts-
lose Anonymität durch gezielte Verhinderung der Memoria entspricht die Re-
bellion gegen ,monumentalische‘ Exzellenz-Ansprüche, die N. im vorliegenden
Kontext von UB II HL kritisch diagnostiziert. Zur Bedeutung von Denkmälern
im Rahmen der historisierenden Erinnerungskultur seit dem 19. Jahrhundert
generell vgl. auch NK 266, 2-6. Zu den Analogien zwischen den essayistischen
Zeitdiagnosen N.s und Musils vgl. ausführlicher das Kapitel II.8 „Rezeption der
Historienschrift und Stationen ihrer Wirkungsgeschichte“ im Überblickskom-
mentar zu UB II HL. Zu den Affinitäten zwischen Nietzsches UB II HL und
Musils Text Denkmale vgl. konkreter: NK 266, 2-6.
264, 22 lasst die Todten die Lebendigen begraben] Abwandlung einer Aussage
Jesu in den Evangelien. Einer von denen, die sich Jesus anschließen wollen,
richtet die Bitte an ihn: „Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen
Vater begrabe. Aber Jesus sagt zu ihm: Folge du mir und laß die Toten ihre
Toten begraben!“ (Matthäus 8, 21-22; Lukas 9, 59-60).

3.
265, 4 entartete Gewächse] Mit der Vorstellung der Entartung führt N. Themen
weiter, mit denen er bereits das vorangegangene 1. Kapitel von UB II HL abge-
schlossen hatte (257, 31-34). - Zu verschiedenen Aspekten von , Entartung4 und
zum historischen Kontext vgl. NK 257, 28-34.
265,13 Urväter-Hausrath] In der Szene „Nacht“, mit der die eigentliche Hand-
lung von Goethes Faust I beginnt, beschreibt Faust seine düstere Gelehrtenstu-
be desillusioniert als „Kerker“ und „Mauerloch“ (V. 398-399): „Mit Gläsern,
Büchsen rings umstellt, / Mit Instrumenten vollgepfropft, / Urväter-Hausrat
drein gestopft - / Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!“ (V. 406-409).
 
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