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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0486
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460 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

268,16-18 die antiquarische Manier zu unersättlicher Neubegier, richtiger Alt-
und Allbegier herabzustimmen] Das Motiv der „Neubegier“ findet sich auch in
der Wissenschaftler-Typologie, die N. in UBIII SE im Rahmen einer Gelehrten-
satire entfaltet (vgl. KSA 1, 394, 24 - 399, 28). Hier karikiert er eine Pluralität
unterschiedlichster Antriebe, die in den Dienst eines „äusser- und übermensch-
lichen Geschäftes, des reinen und folgelosen, daher auch trieblosen Erkennens“
gestellt werden (399, 21-23). In diesem heterogenen Konglomerat wahrheitsfer-
ner Motive sieht N. Antriebe wie Neugier, Abenteuerlust, Jagd- und Spieltrieb
ebenso wirksam wie Widerspruchstrieb und Kampflust sowie Ehrgeiz, Miss-
gunst, Eitelkeit, Vergnügen an Kuriositäten oder Angst vor der Langeweile
(394-399). In diesem Zusammenhang hebt er „eine starke und immer höher
gesteigerte Neubegier, die Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss, die fort-
während anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensätze zum Alten
und Langweiligen“ hervor (394, 27-30). Zur Langeweile vgl. auch NK 256, 18-
26.
268,19-20 und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frisst]
Paraphrase einer Aussage in Goethes Faust I. Hier erklärt Mephistopheles im
„Prolog im Himmel“: „Staub soll er fressen, und mit Lust, / Wie meine Muhme,
die berühmte Schlange“ (V. 334-335). Mit dem Begriff,Quisquilien4 werden be-
langlose Kleinigkeiten bezeichnet, also Bagatellen. - Dafür, dass N. hier über
eine generelle Kritik an der „antiquarische[n] Historie“ (268, 8, 22) hinaus im-
plizit wohl auch gegen seinen eigenen akademischen Lehrer Friedrich Ritschi
polemisiert, spricht ein Brief an N., in dem Erwin Rohde am 14. Oktober 1873
im Hinblick auf den früheren gemeinsamen Mentor Ritschi dasselbe Faust-Zitat
verwendet: „neuerdings scheint er nur noch bibliographische Studien zu trei-
ben! ,Staub fressen, und mit Lust4!“ (KGB II4, Nr. 469, S. 326). Meyer erblickt
im vorliegenden Kontext von UB II HL sogar ein kritisches „Porträt Friedrich
Ritschis“ (Katrin Meyer 1998, 79).
268, 21 Aber selbst, wenn jene Entartung nicht eintritt] Schon im markanten
Schlusssatz des 1. Kapitels seiner Historienschrift exponiert N. den Begriff der
,Entartung4: Bei einem Übermaß der Historie „zerbröckelt und entartet das Le-
ben und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie“ (257,
32-34). Und am Ende des 2. Kapitels beschreibt er die drei Typen des Umgangs
mit Geschichte mithilfe biologischer Metaphorik als „zum Unkraut aufgeschos-
sene, ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und deshalb entartete Ge-
wächse“ (265, 2-3). Für die Decadence-Symptomatik im Bereich der Kultur hat
der Entartungsbegriff insbesondere im Fin de siede zentrale Bedeutung. Vgl.
auch NK 257, 28-34 und NK 265, 4.
269,12-16 Er muss die Kraft haben [...], eine Vergangenheit zu zerbrechen und
aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht
 
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