Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0488
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
462 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

106). Erst aus dieser Begriffsbestimmung ergibt sich für ihn dann auch deren
destruktive Funktion gemäß N.s UB II HL: „die Kritik aber ist philosophisch;
richtend, befreiend“ (ebd., 106). Und Heideggers Bezugnahme auf die vorlie-
gende Passage von UB II HL (269, 8-16) wird evident, wenn er fortfährt: Dabei
„trifft das Richten und Verurteilen die Historie selbst“, um „das Leben“ von
einer „Last zu befreien“, nämlich von der „Übersättigung mit historischen
Kenntnissen“ (ebd., 106). Zu Heideggers (auch kritischer) Auseinandersetzung
mit N.s UB II HL vgl. die ausführliche Heidegger-Passage im wirkungsge-
schichtlichen Kapitel II.8 des Überblickskommentars.
269, 18-23 Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch
weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein,
jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch
ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der
Erkenntniss geflossen ist] Bereits in der Geburt der Tragödie findet sich wieder-
holt die Vorstellung des ,Gerichts4, die N. in der Historienschrift erneut verwen-
det (286, 8 - 287, 28). Zum Motiv des ,Gerichts4 bei N. vgl. auch NK 286, 13-14
und NK 304, 10-13 sowie NK 410, 22-25. (Zur Problematik der Korrelation von
Historie und Leben in UB II HL vgl. die Abschnitte 3 bis 5 in Kapitel II.9 des
Überblickskommentars zu UB II HL.) Die apologetische Perspektive auf die Un-
gerechtigkeit einer ,kritischen Historie4 ist hier durch den Primat des Lebens
motiviert, nach dessen Interessen die Belastung der Menschen durch die Über-
macht der Geschichte im zeitgenössischen Historismus überwunden werden
soll. Direkt im Anschluss an das obige Lemma lässt N. allerdings zunächst eine
auffallende Relativierung folgen, an die er dann ein den Aussagegehalt radika-
lisierendes Zitat aus Goethes Faust anschließt (vgl. dazu NK 269, 25-27): „aber
in den meisten Fällen würde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Ge-
rechtigkeit selber spräche. ,Denn Alles was entsteht, ist werth, dass es zu
Grunde geht. [...] 444 (KSA 1, 269, 23-26.) - Aus der Dynamik des Lebens im Ge-
schichtsprozess ergibt sich konsequenterweise, dass auch die Wertungskriteri-
en einer kritischen Historie Veränderungen unterworfen sind, die sich insofern
auf das Urteil auswirken. Daher erscheint zugleich der Wertmaßstab der Le-
bensdienlichkeit relativ, nämlich insofern, als er sich stets auf die jeweils aktu-
ellen Gegebenheiten bezieht. Und der Prozess der immer neuen Bewertungen,
die vom jeweils gültigen Standpunkt einer kritischen Historie aus vollzogen
werden, erscheint aufgrund der Lebensdynamik unabschließbar (vgl. dazu
auch Marcus Andreas Born 2010, 24).
N.s Feststellung zu Ungerechtigkeiten im Urteil der ,kritischen Historie4,
das vom ,Leben4 gesprochen wird, korrespondiert mit Aussagen in Schopen-
hauers Preisschrift über die Grundlage der Moral: Hier bezeichnet Schopen-
hauer „die Maxime der Ungerechtigkeit, das Herrschen der Gewalt statt des
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften