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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0491
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 269-270 465

Grillparzers Studie Ueber den Nutzen des Studiums der Geschichte orientiert. In
dieser Textpartie schreibt Grillparzer: „Jeder Mensch erkennt sein Leben als
eine Verkettung von Leidenschaften und Irrthümern, sieht dasselbe in dem Le-
ben der Andern vielleicht in verstärktem Maßstabe und doch soll aus dem Ge-
sammtleben der Menschheit, diesem Weltsystem von Irrthümern und Leiden-
schaften, das Wahre hervorgehen, die Wahrheit“ (Grillparzer: Sämmtliche
Werke, Bd. 9, 1872, 35). Auf diesen Passus aus Grillparzers Text Ueber den Nut-
zen des Studiums der Geschichte greift N. in UB II HL auch noch an späterer
Stelle zurück: „Wäre die Geschichte überhaupt nichts weiter als ,das Weltsys-
tem von Leidenschaft und IrrthunT, so würde der Mensch so in ihr lesen müs-
sen, wie Goethe den Werther zu lesen rieth, gleich als ob sie riefe: ,sei ein
Mann und folge mir nicht nach!“4 (311,10-14). - In seiner Studie Zur Literarge-
schichte, aus der N. in UB II HL auch wörtlich zitiert (vgl. NK ZJ1, 5-9), themati-
siert Grillparzer ebenfalls „Leidenschaften“ und „Irrthümer“ und reflektiert zu-
gleich den „Nutzen“ der Geschichte: „so lange es keine Philosophie gibt, ist
die Geschichte die Lehrerin des Menschengeschlechtes. Freilich ist ihr Nutzen
großentheils ein negativer. Sie zeigt uns den Hochmuth, den Eigennutz, die
Leidenschaften, die Irrthümer, die von jeher an den Geschicken der Welt gerüt-
telt haben, und lehrt, sich davor zu hüten; aber eben dadurch wird ihr Nutzen
auch positiv, denn wenn man erst alle falschen Wege bezeichnet hat, fände
man wohl auch den rechten“ (Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9,1872,156).
Zum Topos „historia magistra vitae“ bei Polybios, Cicero, Schiller und Kosel-
leck vgl. NK 258, 19-21.
Im vorliegenden Textzusammenhang der Historienschrift reflektiert N. die
Bedeutung der genealogischen Prägungen, die unausweichlich den Habitus
jedes Individuums mitbestimmen: Selbst dann, wenn man „sich gleichsam a
posteriori eine Vergangenheit zu geben“ versucht, „aus der man stammen
möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“ (270, 21-23), bleibt man
stets auch an seine Herkunft und die familiären Konstellationen der eigenen
Entstehungsgeschichte gebunden. - Vermutlich hat N. in diesem Zusammen-
hang auch an den zeitgenössischen Erfolgsautor Gustav Freytag gedacht, den
er schon in frühen nachgelassenen Notaten erwähnt (vgl. NL 1870/71, 7 [114],
KSA 7, 164 und NL 1870/71, 8 [113], KSA 7, 266). Denn in seinem sechsbändigen
Romanzyklus Die Ahnen (1872-1880) stellt Freytag die Geschichte einer deut-
schen Familie von den Anfängen in der Völkerwanderungszeit bis zum Revolu-
tionsjahr 1848 dar, mithin in einer extrem ausgedehnten Zeitphase, die andert-
halb Jahrtausende umfasst. Dieses damals populäre Romanwerk, mit dem
Freytag hohe Auflagen erzielte, präsentiert eine Synthese von genealogischer
Entwicklung und kulturgeschichtlichen Prozessen in Romanform. Von libera-
len Geschichtskonzepten getragen und von der Evolutionslehre Darwins beein-
 
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