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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0493
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Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 270-272 467

272, 9 fiat veritas pereat vita] „Wahrheit soll geschehen, wenn auch das Leben
darüber zugrunde geht“. Hier wandelt N. den Wahlspruch von Kaiser Ferdi-
nand I. (1503-1564) ab: „Fiat iustitia et pereat mundus“ („Recht soll geschehen,
wenn auch die Welt darüber zugrunde geht“). N.s Variation des lateinischen
Diktums steht hier in einem kulturkritischen Kontext: Ausgehend vom Primat
des Lebens gegenüber der Historie, wendet er sich gegen den Verlust von Ur-
teilskategorien und Wertmaßstäben, der dann droht, wenn eine nicht mehr zu
beherrschende Überfülle historischen Wissens den Menschen überflutet, so
dass schließlich „alle Grenzpfähle [...] umgerissen“ und „alle Perspektiven ver-
schoben“ sind (272, 2-5). Denn dann „regiert nicht mehr allein das Leben und
bändigt das Wissen um die Vergangenheit“ (272, 1-2). Die desaströsen Konse-
quenzen des Historismus drohen nach N.s Einschätzung also denjenigen, die
sich dem chaotischen „Schauspiel“ der „Historie“ und der „gefährlichen Kühn-
heit ihres Wahlspruches: fiat veritas pereat vita“ (272, 6-9) rückhaltlos und
unkritisch überlassen.
272, 23-27 Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von
unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch
ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.] Hier spielt N. auf zwei
Märchen der Brüder Grimm an: Rotkäppchen sowie Der Wolf und die sieben
jungen Geißlein. In beiden Märchen werden die vom Wolf bereits verschlunge-
nen Opfer (Rotkäppchen und seine Großmutter sowie sechs der sieben jungen
Geißlein) später wieder befreit und durch Steine ersetzt, die sich für den Wolf
letztlich als tödlich erweisen. - Theodor Lessing bezieht sich in seinem Buch
Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus
dem Mythos (1919) affirmativ auf N.s Gleichnis vom ,,überfütterte[n] Magen“;
er goutiert es als zutreffende Beschreibung einer problematischen Reizüberflu-
tung, mit der die mentale Verarbeitungskapazität nicht mehr Schritt zu halten
vermag: „Nietzsche hat die Wahrheit ausgesprochen, daß kein Volk mehr als
ein gewisses Maß von Geschichte ertragen könne“, weil „der Mensch [...] die
Eindrücke sowenig mehr verdauen könne wie der überfütterte Magen allzu
reichliche Nahrung. Das Gleichnis ist grob, aber richtig nicht nur in übertrage-
nem Sinne. Die verdauende (eukolische) Kraft des Bewußtseins ist in der Tat
das Gegenstück zu der assimilierenden Kraft des Leibes“ (Lessing, 4. Aufl. 1927,
274-275). Lessing exemplifiziert die nicht mehr zu bewältigende und daher zu
mentaler Überforderung führende Überfülle mit der Flut historischer Ereignisse
und zivilisatorischer Dokumente, um dann programmatisch zu fragen: „Wie
rettet sich das Leben vor seiner Entartung zu Geschichte? Durch die Flucht in
den Mythos“ (ebd., 275).
272, 31 - 273, 2 Das Wissen [...] bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt
verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamem Stolze als die ihm eigen-
 
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