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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0494
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468 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

thümliche „Innerlichkeit“ bezeichnet.] Seit der Zeit der sogenannten Empfind-
samkeit4, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Klopstock und dem
jungen Goethe ihren Höhepunkt erreichte, bildete sich ein Kult der Innerlich-
keit aus, der in der Epoche der Romantik noch an Bedeutung gewann. Auch
Richard Wagner steht in dieser romantischen Tradition: In seinen theoreti-
schen Schriften betont er immer wieder die deutsche Innerlichkeit und grenzt
sie von der romanischen, insbesondere von der französischen Mentalität ab.
273, 26-29 Jenes bekannte Völkchen [...], ich meine eben die Griechen, hatte
sich in der Periode seiner grössten Kraft einen unhistorischen Sinn zäh bewahrt]
Mit dieser Periode meint N. in der Geburt der Tragödie nicht etwa die Periklei-
sche Zeit in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr., sondern die archaische Epoche.
An der historischen Realität vorbei geht allerdings N.s spekulative Behaup-
tung, die Griechen dieser archaischen Periode hätten einen unhistorischen
Sinn bewahrt. Gerade im Werk des Aischylos, des frühesten der drei großen
Tragiker, den N. in der Geburt der Tragödie wegen seiner archaischen Züge -
analog zu Wagner - besonders hervorhebt, zeichnet sich die Wahrnehmung
und poetische Transformation historischer Ereignisse ab, etwa der Perserkriege
mit dem Höhepunkt in der Seeschlacht bei Salamis und der Gründung des
Areopags, die Aischylos in der Orestie thematisiert. Aus der Tatsache, dass He-
rodot und Thukydides, die großen Geschichtsschreiber der Griechen, ihre Wer-
ke erst eine Generation später verfassten, kann also nicht geschlossen werden,
zuvor habe noch kein historischer Sinn existiert. - Heidegger hält N.s Begriff
des ,Unhistorischen4 für zu unspezifisch, weil er in UBII HL mit Mensch und
Tier in Verbindung gebracht wird. Zu Heideggers Differenzierungen und zu sei-
nen Argumenten gegen N.s Konzept des ,Unhistorischen4 vgl. NK 249, 5-6.
273, 34 - 274, 5 aus uns haben wir Modernen gar nichts; nur dadurch, dass wir
uns mit fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophien, Religionen, Erkenntnissen
anfüllen und überfüllen, werden wir zu etwas Beachtungswerthem, nämlich zu
wandelnden Encyclopädien, als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschla-
gener Alt-Hellene ansprechen würde] In der Geburt der Tragödie hat N. mit ana-
logen Implikationen die Vorstellung des ,alexandrinischen4 Menschen entwor-
fen, um seine eigene Zeit zu charakterisieren: „der alexandrinische Mensch44
sei ein „.Kritiker4 ohne Lust und Kraft [...], der im Grunde Bibliothekar und
Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet“ (KSA 1,
120, 5-8). Auch das Zentralthema des Historismus, das die Argumentation in
UB II HL durchgehend bestimmt, hat N. bereits in der Geburt der Tragödie ex-
poniert, und zwar mit der Frage: „Worauf weist das ungeheure historische Be-
dürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser
anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Ver-
lust des Mythus“? (KSA 1, 146, 10-13).
 
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