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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0502
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476 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

keit“ (277, 15-19). Vgl. NK274, 26-34 und NK277, 19-24. - Bereits durch die
Tradition des Pietismus erhielt der Begriff der ,Innerlichkeit4 maßgeblichen
Einfluss auf die Kultur der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert. Für die Glau-
benspraxis der Pietisten hatte die Wendung nach ,innen4, in den geistig-seeli-
schen Bereich, eine programmatische Bedeutung. Später avancierte der Begriff
der ,Innerlichkeit4 zu einer Zentralkategorie im gedanklichen Repertoire der
romantischen Epoche, in der die Innerlichkeit als ein spezifisch deutsches Phä-
nomen galt, zugleich aber auch kritisiert wurde, etwa von Heinrich Heine.
In der Philosophie wurde der Begriff der , Innerlichkeit4 vor allem durch
die Charakterisierung der romantischen Kunst bekannt, die Hegel in seinen
Vorlesungen über die Ästhetik formulierte. In seinem idealistischen Systement-
wurf versteht Hegel die Kunst als eine geschichtliche Manifestation des absolu-
ten Geistes. Im Rahmen seiner philosophischen Überlegungen zur historischen
Entwicklung der Kunsterscheinungen differenziert er zwischen symbolischer,
klassischer und romantischer Kunstform, die er durch das Erstreben, Erreichen
oder Überschreiten des Ideals charakterisiert sieht. In diesem Kontext erklärt
Hegel: „Der wahre Inhalt des Romantischen ist die absolute Innerlichkeit, die
entsprechende Form die geistige Subjektivität, als Erfassen ihrer Selbständig-
keit und Freiheit44 (G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden, 1986, Bd. 14, 129).
„Die romantische Darstellungsweise im Verhältnis zu ihrem Inhalt“ (ebd., 136)
bestimmt Hegel folgendermaßen: „Der ganze Inhalt konzentriert sich [...] auf
die Innerlichkeit des Geistes, auf die Empfindung, die Vorstellung, das Gemüt,
welches nach der Einigung mit der Wahrheit strebt [....]“ (ebd., 137). Laut Hegel
trägt der Primat der Innerlichkeit gegenüber dem Stoff zugleich allerdings auch
zum Zerfall der romantischen Kunstform bei.
277, 5-9 „Wir empfinden mit Abstraction,“ sagt er, „wir wissen kaum mehr, wie
sich die Empfindung bei unseren Zeitgenossen äussert; wir lassen sie Sprünge
machen, wie sie sie heutzutage nicht mehr macht. Shakespeare hat uns Neuere
alle verdorben.“] Hier zitiert N. (mit Modifikationen) aus Franz Grillparzers Ab-
handlung Zur Literargeschichte: „Wir lassen sie (die Empfindung) Sprünge ma-
chen, wie sie sie heut zu Tage nicht mehr macht“ (Grillparzer: Sämmtliche
Werke, Bd. 9, 1872, 187).
277, 19-24 was soll noch gehofft, noch geglaubt werden, wenn der Quell des
Glaubens und Hoffens getrübt ist, wenn die Innerlichkeit gelernt hat, Sprünge zu
machen, zu tanzen, sich zu schminken, mit Abstraction und Berechnung sich zu
äussern und sich selbst allgemach zu verlieren!] Hier rekurriert N. auf dieselbe
Textpassage in Grillparzers Abhandlung Zur Literargeschichte wie in ZJ1, 5-9:
„Wir lassen sie (die Empfindung) Sprünge machen, wie sie sie heut zu Tage
nicht mehr macht“ (Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 187). - Schon
 
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