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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0503
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Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 277 477

in der Geburt der Tragödie verbindet N. die religiösen Vorstellungen von Glau-
be und Hoffnung mit dem Wunsch nach einer authentischen nationalen Kul-
tur. Diese Programmatik ist maßgeblich vom Gedanken einer Wiedergeburt der
Tragödie4 bestimmt, die N. in Wagners „Musikdrama“ glaubt feststellen zu kön-
nen. In der Geburt der Tragödie äußert er sich gegenüber den gleichgesinnten
engagierten Wagnerianern in „exhortativen Tönen“ (KSA 1,132, 21): „Ja, meine
Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt
der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber [...]. Jetzt wagt es
nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den
dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu
hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!“ (KSA 1,132,10-19). -
Allerdings sind im vorliegenden Kontext der Historienschrift tendenziell auch
bereits Vorbehalte gegen Wagners Selbstinszenierung zu erkennen, die N. in
seiner Spätschrift Der Fall Wagner dann entschieden als schauspielerhaften Ha-
bitus verurteilen wird. In diesem Sinne erscheinen schon in der Historienschrift
Aussagen als symptomatisch, mit denen N. die bloß noch dekorative Fassade
kritisiert, also eine problematische Veräußerlichung der Innerlichkeit: So wen-
det er sich gegen die Neigung der „Innerlichkeit [...], zu tanzen, sich zu schmin-
ken“ (277, 21-22).
277, 24 der grosse productive Geist] Implizit ist hier das Genie gemeint, mit
dem sich Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung eingehend be-
schäftigt (vgl. insbesondere WWVI, § 36 und WWV II, Kap. 31). Schopenhauer
setzt für Größe generell die Fähigkeit voraus, eine Fixierung auf subjektive
Zwecke zu überwinden. In der Welt als Wille und Vorstellung II betont er: „wer
groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen: er lebt nicht [...] allein
im Mikrokosmos, sondern noch mehr im Makrokosmos. Darum eben ist das
Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder
um es zu erklären, oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht
fremd; er fühlt daß es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre
nennt man ihn groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend
einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat“ (WWV II, Kap. 31,
Hü 441). An anderer Stelle der Welt als Wille und Vorstellung II veranschaulicht
Schopenhauer die Vorstellung der Geistesgröße sogar mit einer metaphori-
schen Gegenüberstellung von Riese und Zwerg, indem er erklärt: „zu verlan-
gen, daß sogar ein großer Geist — ein Shakespeare, ein Goethe — die Dogmen
irgend einer Religion implicite, bona flde et sensu proprio zu seiner Ueberzeu-
gung mache, ist wie verlangen, daß ein Riese den Schuh eines Zwerges anzie-
he“ (WWV II, Kap. 17, Hü 185-186).
277, 29 die Einheit der Volksempflndung] Das Ideal der Einheit ist gerade im
Zusammenhang mit N.s Vorstellung der Kultur von zentraler Bedeutung. Das
 
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