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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0524
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498 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Hü 505). Die nur flüchtige Existenz historischer Ereignisse veranschaulicht
Schopenhauer, wenn er von den „vorübergehenden Verflechtungen einer wie
Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt“ spricht (ebd.). In diesem Zu-
sammenhang polemisiert Schopenhauer gegen die Grundtendenz der „verdum-
mende [n] Hegelsche[n] Afterphilosophie“, gerade diese kontingenten Phäno-
mene mit dem „Wesen an sich der Welt“ zu verwechseln (ebd.).
Auch in den Parerga und Paralipomena II betont Schopenhauer die funda-
mentale Differenz zwischen dem jeweils spezifischen Weltzugang des Philoso-
phen und des gelehrten Wissenschaftlers: „mehr noch, als jeder Andere, soll
der Philosoph aus jener Urquelle, der anschauenden Erkenntniß, schöpfen
und daher stets die Dinge selbst, die Natur, die Welt, das Leben ins Auge fas-
sen“; denn „die Natur, die Wirklichkeit, lügt nie: sie macht ja alle Wahrheit
erst zur Wahrheit. Daher hat der Philosoph an ihr sein Studium zu machen,
und zwar sind es ihre großen, deutlichen Züge, ihr Haupt- und Grundcharak-
ter, woraus sein Problem erwächst. Demnach wird er die wesentlichen und
allgemeinen Erscheinungen, Das, was allezeit und überall ist, zum Gegenstän-
de seiner Betrachtung machen, hingegen die speciellen, besonderen, seltenen,
mikroskopischen, oder vorüberfliegenden Erscheinungen dem Physiker, dem
Zoologen, dem Historiker u. s. w. überlassen. Ihn beschäftigen wichtigere Din-
ge: das Ganze und Große der Welt, das Wesentliche derselben, die Grundwahr-
heiten, sind sein hohes Ziel“ (PP II, Kap. 3, § 34, Hü 52).
Die Ausrichtung der Philosophie auf das Allgemeine betonte Schopenhau-
er bereits Jahrzehnte zuvor in der Welt als Wille und Vorstellung I. Hier grenzt
er die „P h i 1 o s o p h i e “ insofern von den „andern Wissenschaften“ ab, als „sie
gar nichts als bekannt voraussetzt, sondern alles ihr in gleichem Maße fremd
und ein Problem ist [...]“ (WWVI, § 15, Hü 97): „Die Philosophie wird demnach
eine Summe sehr allgemeiner Urtheile seyn, deren Erkenntnißgrund unmittel-
bar die Welt selbst in ihrer Gesammtheit ist [...]: sie wird seyn eine voll-
ständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in
abstrakten Begriffen“ (WWVI, §15, Hü98-99). - Zu den Argumenten,
die Schopenhauer im Zusammenhang mit seiner Geschichtskritik entfaltet, vgl.
auch NK 267, 17-22 sowie NK 285, 23-26 und NK 300, 3-9.
292, 25-28 Dazu gehört aber vor Allem eine grosse künstlerische Potenz [...] ein
Weiterdichten an gegebenen Typen - dazu gehört allerdings Objectivität, aber
als positive Eigenschaft.] Kurz zuvor bezeichnet N. das „Resultat“ als „ein
künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde“; und er fährt fort:
„In dieser Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dra-
matikers“ (290,14-17). Der Begriff der Objektivität verschiebt sich hier in den
subjektiven Bereich künstlerischen Denkens und Gestaltens, vom realen Ge-
schehen und dessen bestimmenden Faktoren in die ideelle Konzeption von Ge-
 
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