Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0528
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
502 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

liehen Handeln „überall eine frappante Uebereinstimmung und Aehnlichkeit.
Sie findet, daß Menschen unter allen Graden Menschen sind, oder in einerlei
Umständen auf einerlei Art handeln“; allerdings lehnt Schlözer eine Ge-
schichtsschreibung ab, welche die Lücken der Überlieferung mit eigenen Zuta-
ten zu schließen versucht: „Wo nichts ist, da meldet die Weltgeschichte nichts
[...] Die Lücken, die dadurch notwendig im Zusammenhänge der Begebenheiten
entstehen, füllt sie nicht durch Hypothesen und Visionen aus, sondern sie zeigt
sie nur an“ (ebd., 36, 41-42).
Auch Kant reflektiert in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschen-
geschichte von 1786 das Problem der Lücken in der historischen Überlieferung
und weist dabei auf die Möglichkeit hypothetischer Rekonstruktion hin. Zu-
gleich jedoch grenzt er sich entschieden vom exzessiven Gebrauch eines analo-
gisch-spekulativen Verfahrens ab, wie es etwa Herders Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit kennzeichnet. Am Anfang dieser Schrift erklärt
Kant: „Im Fortgänge einer Geschichte Muthmaßungen einzustreuen, um
Lücken in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt: weil das Vorherge-
hende als entfernte Ursache und das Nachfolgende als Wirkung eine ziemlich
sichere Leitung zur Entdeckung der Mittelursachen abgeben kann, um den
Übergang begreiflich zu machen. Allein eine Geschichte ganz und gar aus
Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Ent-
wurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer
muthmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung füh-
ren können“ (AA 8, 109). Damit antizipiert Kant genau die Konstellation, die
in N.s Konzept der Historie 88 Jahre später tatsächlich zum Problem wird. Vgl.
dazu den Abschnitt 5 im Kapitel II.9 des Überblickskommentars.
Schiller begründete die analogische Methode wie zuvor bereits Schlözer
(wenn auch mit den von diesem und von Kant formulierten Einschränkungen)
durch die gleichbleibende Natur des Menschen. In seiner Jenaer Antrittsvorle-
sung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? konsta-
tiert Schiller die „Gleichförmigkeit und unveränderliche Einheit der Naturge-
setze und des menschlichen Gemüts, welche Einheit Ursache ist, daß die
Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher
Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren“ (Schiller: FA,
Bd. 6, 427).
Von einer ähnlichen anthropologischen Basis ausgehend, reflektiert später
auch der alte Goethe im Faust II und in Wilhelm Meisters Wanderjahren ein
solches typologisches Verfahren und eine analogische Betrachtung der Weltge-
schichte. Er bezeichnet das Überspringen synchroner Geschichtsbetrachtung
zugunsten eines analogisierenden und typisierenden Zusammendenkens,
durch das auch weit auseinanderliegende Zeiträume miteinander korreliert
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften