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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0536
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510 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Theologie fixiert blieben (vgl. dazu auch Kapitel 1.6 im Überblickskommentar
zu UB IDS). Im Sinne seiner Bibel- und Dogmenkritik propagierte Strauß eine
antiklerikale Reform des Christentums und eine Humanitätsreligion ohne Kir-
che. Die von Strauß für breitere Leserschichten popularisierte Textversion Das
Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet (1864) rezipierte N. im Frühjahr
1865 schon während seiner Studienzeit. Radikale Positionen, die unter Rück-
griff auf Methoden der kritischen Christologie auf den Entwurf einer nach-
christlichen Humanitätsreligion zielen, vertritt Strauß auch in seinem zweibän-
digen Werk Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung
und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt (1840/41), in dem er
die Inkompatibilität der christlichen Religion mit der modernen Wissenschaft
behauptet.
David Friedrich Strauß’ markantes Diktum „Die wahre Kritik des Dogmas
ist seine Geschichte“ (ebd., Bd. 1, 71) und die Tatsache, dass N. nur ein Jahr
vor UB II HL seine Polemik gegen Strauß in UB I DS publiziert hatte, geben
Anlass zu der Annahme, dass er sich im vorliegenden Kontext von UB II HL
primär auf Strauß bezieht, wenn er kritisch konstatiert, dass „die neuere Theo-
logie sich rein aus Harmlosigkeit mit der Geschichte eingelassen“ habe. - In
wirkungsgeschichtlicher Hinsicht gilt Strauß’ Schrift Das Leben Jesu, kritisch
bearbeitet als das wichtigste seiner Werke, weil es den theologischen Diskurs
so nachhaltig prägte (vgl. Kuhn 2001, 243). Obwohl der Name Strauß „zum
Symbol des ungläubigen Theologen stilisiert“ wurde (vgl. ebd., 244), führte die
radikale, den Prinzipien der Aufklärung verpflichtete Bibel- und Dogmenkritik,
die Strauß in diesem Werk entfaltete, zu folgenreichen theologischen und reli-
gionsphilosophischen Kontroversen. Sie galten den Spannungsverhältnissen
zwischen Geschichte, Wissen und Glauben und wirkten bis in theologische De-
batten der Gegenwart weiter. (Zu zeitgenössischen Diskursen der protestanti-
schen Theologie vgl. Friedrich Wilhelm Graf 1982, 40). Noch im 20. Jahrhundert
vermittelte das durch Strauß eröffnete Spannungsfeld von Mythos und Entmy-
thologisierung sowie von „Historie und Kerygma“, mit dem er sich sowohl von
supranaturalistischen als auch von rationalistischen Konzepten abgrenzte, der
Forschung zum Neuen Testament maßgebliche Anregungen (vgl. dazu Kuhn
2001, 244).
Einen konkreten Bezug zwischen Voltaires intellektuellem Profil als Frei-
geist und seinem eigenen Selbstverständnis stellt N. her, indem er sein Buch
Menschliches, Allzumenschliches mit einer Vorbemerkung Voltaire zum 100. To-
destag widmete (vgl. KSA 1, 10). Allerdings hebt N. in Menschliches, Allzu-
menschliches II auch Differenzen zwischen „der früheren und der gegenwärti-
gen Freigeisterei“ hervor (KSA 2, 382, 3) und betont mit konkretem Bezug auf
ein Voltaire-Zitat den „Fortschritt der Freigeisterei“ (KSA 2, 382, 2). N.s
 
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