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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0546
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520 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

die Länge und Breite zu ersetzen“ (WWVII, Kap. 38, Hü 504). Schopenhauer
hält die Philosophie für „das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen, wel-
ches die Aufschlüsse verheißt, zu denen die andern nur vorbereiten“; daher
„schwebt die Philosophie“ über allen anderen Wissenschaften (WWV II,
Kap. 38, Hü 502).
Den inferioren Rang der Geschichte begründet Schopenhauer folgender-
maßen: „Sofern nun also der Stoff der Kunst die Ide e, der Stoff der Wissen-
schaft der Begriff ist, sehn wir Beide mit Dem beschäftigt, was immer daist
und stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, jetzt so und
jetzt anders: daher eben haben Beide es mit Dem zu thun, was Plato aus-
schließlich als den Gegenstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der Ge-
schichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelheit und Zufälligkeit, was
Ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflech-
tungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft
durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden. Von diesem Stand-
punkte aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum noch als ein der ern-
sten und mühsamen Betrachtung des Menschengeistes würdiger Gegenstand,
des Menschengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, das Unvergängli-
che zu seiner Betrachtung wählen sollte“ (WWV II, Kap. 38, Hü 505). - An-
schließend polemisiert Schopenhauer gegen „das, besonders durch die überall
so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufge-
kommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen,
oder, wie sie es nennen, ,sie organisch zu konstruiren4“, dem seines Erachtens
„ein roher und platter Realismus zum Grunde“ liegt, der die bloße „Er-
scheinung für das Wesen an sich der Welt hält“ (WWVII, Kap. 38,
Hü 505).
Auch in den Parerga und Paralipomena II betont Schopenhauer die funda-
mentale Differenz zwischen philosophischer und historischer Erkenntnis: Wäh-
rend „der Philosoph aus jener Urquelle, der anschauenden Erkenntniß,
schöpfen und daher stets die Dinge selbst, die Natur, die Welt, das Leben ins
Auge fassen“ soll, also das, „was allezeit und überall ist“, „das Ganze und
Große der Welt, das Wesentliche derselben, die Grundwahrheiten“, wenden
sich Physiker, Zoologen und Historiker den „speciellen, besonderen, seltenen,
mikroskopischen, oder vorüberfliegenden Erscheinungen“ zu (PP II, Kap. 3,
§ 34, Hü 52.) Zu Schopenhauers Geschichtsskepsis vgl. auch NK 258, 25-26 und
NK 267, 17-22 sowie NK 285, 23-26 und NK 292, 17-19.
300, 25-29 wenn die Menschen in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und
nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind, so ist in Kurzem die Wissenschaft
ebenso ruinirt, wie die allzuzeitig in dieser Fabrik verwendeten Sclaven] Die Fab-
rik-Metapher (vgl. auch 299, 8 und 300, 33) übernimmt N. von Schopenhauer,
 
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