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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0547
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Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 300 521

auf dessen Sprachgebrauch er sich in UB III SE sogar ausdrücklich beruft,
wenn er „die Menschen“ als „Fabrikwaare“ bezeichnet (KSA 1, 338, 5-7). Wie
bereits bei Schopenhauer ist die pejorative Fabrik-Metapher bei N. ebenfalls
von einem entschiedenen Geistesaristokratismus motiviert. In UB II HL gibt er
der metaphorischen Vorstellung allerdings einen spezifischen Akzent, indem
er sie auf problematische Aspekte der Gelehrtenexistenz bezieht (300, 26, 33).
Dies gilt auch für eine frühere Textpassage, in der N. die Wissenschaftler arbei-
ten sieht, „als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei“, und ihre ruinöse Hast bei
der Forschung mit den prekären Arbeitsbedingungen des ,,Sclavenstand[s]“ ana-
logisiert (202, 26-28). Im vorliegenden Kontext führt N. diese Argumentation wei-
ter und bedient sich dabei mit Bedauern des „Jargons der Sclavenhalter“ (300,
30). Mit drastischer Diktion betont er hier die unwürdige, zu vorzeitigem Ver-
schleiss führende Hektik der Wissenschaftler, denen das Kreativitätsstimulans
der Muße fehlt. In UB III SE beleuchtet er dann die sachfremden Motivationen
und das pragmatische Kalkül im Bereich der Forschung durch eine facettenrei-
che Gelehrtensatire (KSA 1, 394, 20 - 400, 8). Die Sklaven-Metapher verwendet
N. auch noch in anderen Kontexten, wenn er die modernen Menschen in
UB III SE „als die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen
und der Moden“ bezeichnet (KSA 1, 392, 10-11) und wenn ihm in der Geburt
der Tragödie „der Journalist“4 als „der papierne Sclave des Tages“ erscheint
(KSA 1, 130, 20). Das Tertium comparationis der unterschiedlichen Verwen-
dungsweisen liegt in einer entfremdenden Instrumentalisierung, die der Wahr-
heitssuche abträglich ist.
Bereits Schopenhauer gebraucht die Vorstellung des Sklaven mit ähnlich
negativen Implikationen: In seiner Schrift Aphorismen zur Lebensweisheit wird
„der Sklave fremder Meinung und fremden Bedünkens“ zum Thema (PP I,
Hü 376). In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I von 1819
bezeichnet Schopenhauer den ,,gewöhnliche[n] Mensch[en]“ als „Fabrikwaare
der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt“ (WWVI, § 36,
Hü 220). Mehr als drei Jahrzehnte später spricht er auch in seiner Schrift Ueber
die Universitäts-Philosophie, die er 1851 im Rahmen der Parerga und Paralipo-
mena I publizierte, von der großen Masse der Menschen als bloßer „Fabrikwaa-
re der Natur [...] mit ihrem Fabrikzeichen auf der Stirn“ (PP I, Hü 209). N. über-
nimmt Schopenhauers pejorative Metapher „Fabrikwaare“, indem er in
UB III SE erklärt: „Wenn der grosse Denker die Menschen verachtet, so verach-
tet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare“ (KSA 1,
338, 5-7). Vgl. auch NK 338, 5-7. Ähnlich wie N., der sich in UB III SE später
explizit auf die Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie beruft (KSA 1, 413,
418), vertritt schon Schopenhauer einen prononcierten Geistesaristokratismus.
Nachdrücklich betont er, „wie aristokratisch die Natur ist: sie ist es so
 
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