Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0550
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
524 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

reden zu können! Steckt nicht vielmehr in diesem lähmenden Glauben an eine
bereits abwelkende Menschheit das Missverständniss einer, vom Mittelalter her
vererbten, christlich theologischen Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weiten-
de, an das bänglich erwartete Gericht?] Diese Textpassage lässt mehrere Kritik-
ansatzpunkte N.s erkennen. Skeptisch reagiert er zunächst auf organologische
Geschichtsmodelle, in denen die Menschheitsgeschichte analog zu den Phasen
des individuellen Menschenlebens beschrieben wird. Zu denken ist hier etwa
an das vierteilige Opus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(1784-1791), in dem Johann Gottfried Herder die Kulturgeschichte als vernunft-
bestimmte Fortsetzung der Naturgeschichte beschreibt: Seines Erachtens voll-
zieht sich die kulturelle Entwicklung ganzer Völker nach ähnlichen Prinzipien
wie die Lebensgeschichte von Individuen. Kulturhistorische Traditionen dieser
Art wirken nach der Schaffens- und Lebenszeit N.s bis zu Oswald Spenglers
Werk Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltge-
schichte (1918) weiter: Hier entwirft Spengler eine spekulative organologische
Kulturmorphologie im Rhythmus von Blüte- und Verfallsperioden.
Anschließend bezieht sich N. mit einer rhetorischen Frage kritisch auf die
organologische Decadence-Vorstellung einer „bereits abwelkende[n] Mensch-
heit“, deren Ursprung er im „theologischen“ Gedanken „an das nahe Weiten-
de“ vermutet. Diese angstbesetzte Endzeit-Vorstellung fördert möglicherweise
ein eskapistisches Bedürfnis nach Selbstermächtigung, mit dem sich jedenfalls
teilweise die Metaperspektive derjenigen erklären ließe, die von einem ver-
meintlich übergeordneten Standpunkt aus den Blick über „Jahrtausende“ hin-
schweifen lassen. (Zu N.s Kritik an der geschichtsphilosophischen Teleologie
bei Hegel und Eduard von Hartmann und seinem Vorbehalt gegen ihre optimis-
tischen Basisannahmen vgl. NK 308, 30-32.) Indem N. das Individuum als Per-
spektivfigur zum „unendlich kleinen Atompünktchen“ reduziert, konterkariert
er ironisch die anthropologischen Prämissen einer solchen Geschichtsbetrach-
tung, sofern sie die Bedeutung des erkennenden Ich voraussetzt. Die physikali-
sche Metapher „Atompünktchen“ erhält ein zoologisches Pendant, wenn N.
in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit von UBII HL Hegels
Vorstellung vom ,Weltgeist4 und Eduard von Hartmanns Idee eines Weltprozes-
ses4 als „verkappte Theologie“ bezeichnet, um sie sodann als idealistische
Konstrukte zu entlarven: „Es ist sofort lächerlich! Der Mensch und der Welt-
prozess4! Der Erdfloh und der Weltgeist!“ (NL 1873, 29 [53], KSA 7, 650).
Die Metaphorik, die den Menschen als bloßes „Atompünktchen“ oder als
„Erdfloh“ erscheinen lässt, durchkreuzt jedwede hybride Anwandlung durch
realistische Desillusionierung. Das Miniaturformat wird dabei zum konsequen-
ten Ausdruck radikaler Entwertung des Menschen bis zur Bedeutungslosigkeit.
In dieser Hinsicht ergibt sich eine aufschlussreiche Parallele zur kosmologi-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften