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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0551
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Stellenkommentar UB II HL 8, KSA 1, S. 303-304 525

sehen Metaphorik in der Anfangspassage der etwa in der gleichen Zeitphase
wie UB II HL entstandenen nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und
Lüge im aussermoralischen Sinne. Hier wird der Sonderstatus des Menschen als
vermeintliche ,Krone der Schöpfung4 vor dem Hintergrund des kopernikani-
schen Heliozentrismus und der Evolutionslehre Darwins ironisch suspendiert
(vgl. Neymeyr 2016b, 336-338): „In irgend einem abgelegenen Winkel des in
zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal
ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmü-
thigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte4: aber doch nur eine Minu-
te. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen
Thiere mussten sterben. - So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde
doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüch-
tig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der
Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder
mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben44 (KSA 1, 875, 2-13).
304,10-13 jenes Weltgericht über alles Vergangene [...], welches der christliche
Glaube keineswegs vom Menschen, aber von „des Menschen Sohn“ erwartete]
Hier zitiert N. eine in der Bibel häufig vorkommende Bezeichnung für Jesus
Christus (vgl. z. B. Matth. 8, 20: „des Menschen Sohn hat nicht, da er sein
Haupt hinlege“; Luk. 17, 30: „wenn des Menschen Sohn soll offenbart wer-
den“). Zugleich evoziert N. die mit der christlichen Parusie-Erwartung verbun-
dene Endzeit-Vorstellung eines Jüngsten Gerichts4. Im vorliegenden Kontext
spielt er mit dem „Weltgericht“ auf das 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums
an. Hier konzentriert sich eine ganze Passage auf das endzeitliche Gericht; sie
bringt die Vorstellung des ,Gerichts4 sogar mit der genannten Jesus-Paraphrase
in Verbindung: „und hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, da-
rum daß er des Menschen Sohn ist“ (Joh. 5, 27). Anders als N. unterscheidet
das Evangelium allerdings nicht zwischen dem Menschen und des Menschen
Sohn, sondern zwischen dem Vater und des Menschen Sohn: „Denn der Vater
richtet niemand; sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben“ (Joh. 5, 22;
vgl. Daniel 7, 13 sowie 7, 14). Für die lebensfeindliche Spätzeitstimmung macht
N. die Ausrichtung der christlichen Religion auf die Todesstunde des Menschen
verantwortlich, der nach christlicher Auffassung ebenfalls ein ,Gericht4 über
das vergangene Leben folgt.
Eschatologisch ausgerichtete Vorstellungen zum „Gericht“, die in UB II HL
im Kontext der ,kritischen Historie4 besondere Bedeutung erhalten, bestimmen
auch andere Partien in N.s frühen Schriften. So imaginiert er in UB III SE im
Zusammenhang mit philosophischen Konzepten Schopenhauers „eine furcht-
bare überweltliche Scene des Gerichts, in der alles Leben, auch das höchste
und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde“, und bezeichnet dort
 
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