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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0552
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526 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

„den Heiligen als Richter des Daseins“ (410, 22-25). Die eschatologisch per-
spektivierte Vorstellung vom „Gericht“, die für N.s Frühwerk insgesamt charak-
teristisch ist, wird von ihm in unterschiedlichen Gedankengängen auch mit
variablen Akzentsetzungen versehen. So formuliert er in der Geburt der Tragö-
die die Prognose: „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen,
wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen“
(KSA 1, 128, 5-7). In UB II HL bestimmen eschatologische Vorstellungen von
„Richter“ und „Gericht“ sein Konzept der ,kritischen Historie4 (vgl. 269, 8 -
270, 30 und 286, 8 - 287, 28). Später hebt N. in UB IV WB das „kommende
Gerichtsverfahren“ hervor, „mit dem unsere Zeit heimgesucht wird“ (KSA 1,
463, 8-9), und spricht dort von „den künftigen Richtern“ über „die modernen
Menschen“ (KSA 1, 462, 21-23). Zur Gerichtsthematik bei N. vgl. auch die kul-
turhistorisch anders akzentuierten Vernetzungen in NK 286, 13-14; NK 287, 1;
NK 308, 19-26 (zu UB II HL) und in NK 410, 22-25 (zu UB III SE) sowie die Dar-
legungen im Überblickskommentar zu UB II HL. Vgl. ergänzend den gedank-
lichen Horizont biblischer Vorstellungen vom Jüngsten Gericht sowie Denk-
modelle im Kontext der antiken Philosophie, denen die Vorstellung vom
reinigenden Akt des Verbrennens gemeinsam ist, in NK 410, 22-25 (unter Re-
kurs auf Lehren Heraklits und der Stoiker).
304,14-17 „memento mori“ [...] „memento vivere“] In seinem Bildungsroman
Wilhelm Meisters Lehrjahre setzt Goethe dem christlichen „memento mori“
(„denke an den Tod“) die Losung „Gedenke zu leben“ („memento vivere“) ent-
gegen (vgl. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 9, 920). Im 5. Kapitel des 8. Buches ist ein
Saal mit Sarkophagen dargestellt. Diese Szenerie legt eigentlich Assoziationen
an den Tod nahe, denen mit der folgenden Beschreibung jedoch eine Aufforde-
rung zum Leben entgegengehalten wird: Zu sehen ist „auf einem prächtigen
Sarkophagen das Marmorbild eines würdigen Mannes, an ein Polster gelehnt.
Er hielt eine Rolle vor sich, und schien mit stiller Aufmerksamkeit darauf zu
blicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen
konnte. Es stand darauf: Gedenke zu leben“ (ebd., 920). - Schiller, der an der
Entstehung von Wilhelm Meisters Lehrjahren intensiv Anteil nahm, kommen-
tierte diese Maxime am 3. Juli 1796 in einem Brief an Goethe zustimmend. Er
betrachtet den Imperativ „gedenke zu leben“ geradezu als einen Triumph über
das Todesbewusstsein: „Dieser Saal der Vergangenheit vermischt die aestheti-
sche Welt, das Reich der Schatten im idealen Sinn, auf eine herrliche Weise
mit dem lebendigen und wirklichen [...]. Die Inschrift: gedenke zu leben ist
trefflich, und wird es noch vielmehr, da sie an das verwünschte Memento mori
erinnert, und so schön darüber triumphiert“ (Schiller: FA, Bd. 12, 183). N. stu-
dierte den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, der sich in seiner per-
sönlichen Bibliothek befand. Daher kann er sich mit seiner Anspielung auch
 
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