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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0554
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528 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

aussprechen lässt (V. 316-317). Bereits in seiner Erstlingsschrift Die Geburt der
Tragödie greift N. auf dieses antike Drama zurück, um das Wissen und eine
von ihm abgeleitete Weisheit kritisch zu hinterfragen: „,Die Spitze der Weisheit
kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur4: solche
schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu“ (KSA 1, 67, 14-16).
306, 13-19 Oder sollte es wahr sein, dass wir Deutschen [...] in allen höheren
Angelegenheiten der Cultur immer nur „Nachkommen“ sein müssten, deshalb
weil wir nur dies allein sein könnten, wie diesen sehr zu überlegenden Satz
einmal Wilhelm Wackernagel ausgesprochen hat: „Wir Deutschen sind einmal
ein Volk von Nachkommen [...].“] Der deutsche Begriff ,Nachkomme4 ist eine
wörtliche Übersetzung von ,Epigone4; dieser Begriff ist vom wertneutralen alt-
griechischen Wort ,epigonos4 (eniyovoq: Sohn, Nachkomme) abgeleitet. In kul-
turkritisch orientierten Texten der Zeit werden beide Begriffe äquivalent ge-
braucht, und zwar mit negativem Akzent. Dies gilt auch für Wilhelm
Wackernagel (1806-1869), der in Basel als Professor der Germanistik und aner-
kannter Gelehrter tätig war. N. zitiert Wackernagels Diktum aus dessen Schrift
Geschichte des deutschen Dramas bis zum Anfänge des 17. Jahrhunderts. Zwei
Vorträge, 1845 gehalten (vgl. Wackernagel: Kleinere Schriften, Bd. 2,1873, 122).
Bereits seit den 1830er Jahren gehörte die Epigonenproblematik zum kul-
turkritischen Repertoire der Epoche. Nach der sogenannten ,Kunstperiode4 der
Klassik und Romantik übertrug Karl Immermann den ursprünglichen, genealo-
gisch-biologisch akzentuierten Epigonenbegriff in die geistig-künstlerische
Sphäre. Der von ihm kulturkritisch umgedeutete Begriff bezeichnet seither pe-
jorativ den ,geistigen Erben4, der sich eklektizistisch an ,klassischen4 Vorbil-
dern orientiert und zugleich an deren Übergröße leidet. Die Problematik der
Epigonalität wurde von zahlreichen Autoren in theoretischen und fiktionalen
Werken reflektiert. Adalbert Stifter, den N. sehr schätzte, schrieb sogar eine
Künstlernovelle mit dem für die Epochensituation symptomatischen Titel
Nachkommenschaften: Hier entfaltet Stifter eine kritische Zeitdiagnose, indem
er das Gegenwärtige in mehrfacher Hinsicht als bloße Wiederkehr von Vergan-
genem erscheinen lässt. Die Aporie eines in künstlerischer und existentieller
Hinsicht epigonalen Malers gestaltet Stifter mit einer humoristischen Pointie-
rung, die aber nur vordergründig die Schärfe der dem Text inhärenten Kultur-
kritik mildert (vgl. Neymeyr 2004, 185-205). Dem Epigonenbewusstsein dieses
Protagonisten entspricht N.s Diagnose in UB II HL: „Solche Spätlinge freilich
leben eine ironische Existenz“ (307, 26). - Zur Epigonalität vgl. die Kommenta-
re zu UB II HL (295, 4-7), UB I DS (KSA 1, 169, 15-18) und UB III SE (KSA 1, 344,
31-34; 350, 20-21). Zu dem Stilpluralismus, den N. in der Epoche des Historis-
mus diagnostiziert, vgl. NK 273, 34 - 274, 5.
 
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