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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0556
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530 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Bereits in der Geburt der Tragödie imitiert N. sprachlich die besonderen
Präferenzen Richard Wagners für ,Ur‘-Zustände von der Art, wie er sie „in der
altgriechischen Urwelt des Grossen, Natürlichen und Menschlichen“ situiert.
Bezeichnenderweise verwendet N. in GT häufig Wörter wie „Ur-Eines“ (KSA 1,
30, 12; 38, 30; 39, 31; 44, 1), „Urbilder“ (KSA 1, 31, 13; 58, 8; 58, 20), „Urlust“
(KSA 1, 44,12), „Urdrama“ (KSA 1, 52,16), „Urerscheinung“ (KSA 1, 60,16) und
„Urphänomen“ (KSA 1, 60, 24). Außerdem ist dort vom „Ursprung der
griechischen Tragödie“ (KSA 1, 52, 6-7) und - in einer triadischen Stu-
fung von ,Ur‘-Inszenierungen - sogar vom „Urwiderspruch und Urschmerz im
Herzen des Ur-Einen“ (KSA 1, 51, 26-27) die Rede.
Indem N. von einer Vorbildfunktion der „unhistorischen Bildung“
in der archaischen Periode der griechischen Antike ausgeht und ihr die singu-
läre Qualität einer besonders „reichen und lebensvollen Bildung“ zu-
spricht, zielt er zugleich auf seine eigene Epoche, die er in UBIV WB vom „wi-
derlichen Götzendienste der modernen Bildung“ depraviert sieht (KSA 1, 434,
9-10) und dort mit der Kunst-Religion Richard Wagners kontrastiert. Wie dieser
kritisiert auch N. den Typus des „Gebildeten“ in den Unzeitgemässen Betrach-
tungen wiederholt als Vertreter einer degenerierten Kultur. Wenn N. „gegen das
wuchernde und unterdrückende Um-sich-greifen der heutigen Gebildetheit“
wettert (KSA 1, 450, 6-7), durch die manch einer unter den Zeitgenossen zum
„Feind“ Bayreuths werde (KSA 1, 450, 8-9), dann folgt er zugleich Wagners
Tendenz zum Antirationalismus und dessen musikästhetischen Prämissen.
Auch indem N. „Vorbilder“ in der „Urwelt des Grossen, Natürlichen und
Menschlichen zu suchen“ empfiehlt, schließt er an Überzeugungen Wagners an,
der in seiner Schrift Oper und Drama die bloße Gebildetheit mit der genuinen
natürlichen Empfindung kontrastiert und sich ein „Publikum“ wünscht, dem
„ohne spezifisch gebildeten Kunstverstand das vorgeführte Drama zum voll-
ständigen, gänzlich mühelosen Gefühlsverständniß kommen soll [...]“
(GSD IV, 222-223, Anm.) N. folgt diesem Plädoyer, wenn er Wagners Kunst weit
entfernt sieht vom „Dunstkreis der Gelehrten“ (KSA 1, 503, 3), weil sie „den
Gegensatz von Gebildeten und Ungebildeten“ aufhebe (KSA 1, 505, 11-12).
Bildungsüberdruss sowie Antirationalismus und eine grundsätzliche Skep-
sis gegenüber dem Typus des Gebildeten bestimmen schon Die Geburt der Tra-
gödie und erhalten in den Unzeitgemässen Betrachtungen ebenfalls eine zentra-
le Bedeutung. Wiederholt differenziert N. in seinen frühen Schriften zwischen
echter Bildung und einem bloßen Gebildetsein, das seines Erachtens nur
scheinbar von Kultiviertheit zeugt. Dabei folgt er Auffassungen Wagners, der
bereits in seiner Schrift Über das Dirigiren (vgl. GSD VIII, 313-315) die genuine
,Bildung4 von bloßer ,Gebildetheit4 abgrenzt. Schon im 20. Kapitel der Geburt
der Tragödie (vgl. KSA 1, 129, 10 - 131, 4 sowie NK1/1, 360-368) stellt N. dem
 
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