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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0559
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Stellenkommentar UB II HL 8, KSA 1, S. 308 533

wenn N. fortfährt: „Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn
das Wandeln Gottes auf der Erde genannt“ (308, 24-25).
Bereits Jacob Burckhardt wendete sich in seiner Basler Vorlesung „Über
das Studium der Geschichte“, die später unter dem Titel Weltgeschichtliche Be-
trachtungen (1905) erschien, energisch gegen das „kecke Antizipieren eines
Weltplanes“ durch Hegel (Burckhardt 1905, 3). Diese Vorlesung, die Burckhardt
an der Universität Basel in den Wintersemestern 1868/69 sowie 1870/71 und
1872/73 hielt, hörte N. selbst im Wintersemester 1870/71 als „wöchentlich ein-
stündiges Colleg über das Studium der Geschichte“ (KSB 3, Nr. 107, S. 155).
Burckhardts Kritik am ,,kecke[n] Antizipieren eines Weltplanes“ paraphrasiert
N. mit seiner Polemik gegen die teleologischen Implikationen „kecker Umstül-
pung“, die das defizitäre Epigonentum fälschlich zu „einer Vollendung der
Weltgeschichte“ stilisiere (308,14-16). - Im wissenschaftlichen Diskurs hat der
Terminus Weltgeschichte4, der auf kulturelle Denktraditionen seit der Antike
zurückgeht und synonym zu ,Universalgeschichte4 verwendet wird, über Jahr-
hunderte Eingang in ein breites Spektrum theoretischer Konzepte gefunden. In
der ,Universalhistorie4 spielte ein teleologischer Grundansatz auf der Basis des
Perfektibilitätsgedankens in der Phase des Übergangs vom 18. zum 19. Jahr-
hundert eine zentrale Rolle. Im Zuge von Säkularisierungstendenzen seit der
französischen Aufklärung entfaltete sich Geschichtsphilosophie vorrangig als
Philosophie der Weltgeschichte4. Kant gab der Geschichte als der damals neu-
en Leitwissenschaft in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht (1784) ein philosophisches Profil, indem er eine Idee
der Weltgeschichte4 entwarf, die einem verborgenen Naturplan, mithin einer
teleologischen Orientierung folge (vgl. Kant: AA 8, 29). Hegel betrachtete den
Prozess der Geschichte, der sich seines Erachtens vernünftig vollzieht, als Ma-
nifestation des objektiven Weltgeistes. Insofern schloss er mit seinem Fort-
schrittsbegriff an den tradierten Perfektibilitätsgedanken an. N. reagiert auf
diesen Grundansatz Hegels mit Polemik, wenn er in UB II HL erklärt: „Man hat
diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der
Erde genannt“ (308, 24-25). Zu weiteren Konzepten der Weltgeschichte4 bei
Herder, Schelling, Fichte, Hegel, die in der Zeit des Historismus zusehends
hinterfragt werden, vgl. Rohbeck 2004, Sp. 482-483. Je mehr sich die Geschich-
te in der Folgezeit in Spezialdisziplinen ausdifferenzierte, desto mehr büßte
der Terminus Weltgeschichte4 an Bedeutung ein.
Mehr als vier Jahrzehnte nach der Publikation von UB II HL lässt der von
N. stark beeinflusste Oswald Spengler teleologische Natur- und Geschichtsdeu-
tung 1918 in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte konvergieren, indem er auf der Basis vitalisti-
scher Spekulationen apodiktisch erklärt: „Kulturen sind Organismen. Weltge-
 
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