540 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
dort bereits präsenten Kettenmetaphorik. Der Begriffssynthese Grillparzers gibt
N. allerdings eine stärkere negative Akzentuierung, wenn er feststellt: „Denn
da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die
Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es
ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrun-
gen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache
nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen“ (270, 9-15). - „Leidenschaf-
ten“ und „Irrthümer“ macht Grillparzer auch in seiner Studie Zur Literarge-
schichte zum Thema: Hier charakterisiert er die Geschichte als „Lehrerin des
Menschengeschlechtes“ und schreibt ihr den negativen „Nutzen“ zu, dass sie
uns „die Leidenschaften, die Irrthümer“ in der Welt vorführt, um zugleich vor
ihnen zu warnen (Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 156). Vgl. auch
NK 270, 9-15.
Goethe hatte seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (in der
zweiten Ausgabe von 1775) ein Motto vorangestellt, um die Leser vor einer nai-
ven Überidentifikation mit dem Protagonisten zu warnen, vor allem vor der
Nachahmung seines Suizids:
„Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;
Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:
Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“
Damit kehrte Goethe in seinem Werther-Roman zugleich ein Jesus-Wort um,
das ausdrücklich zur Nachfolge auffordert und sich in mehreren der biblischen
Evangelien belegen lässt (vgl. Matthäus 4; Markus 1, 17; Johannes 1, 43; 21, 19;
21, 21). - Bezeichnenderweise wählte Goethe dieses Motto gerade für das zweite
Buch seines Briefromans, in dem sich der Gemütszustand Werthers zusehends
melancholisch verdüstert, bis er sich am Ende mit einer Pistole erschießt. Bei
den zeitgenössischen Lesern hatte Goethes erster Roman in der Epoche der
Empfindsamkeit und des Sturm und Drang eine gigantische Resonanz gefun-
den und eine regelrechte Werther-Mode ausgelöst, die sogar zahlreiche Suizide
nach dem Vorbild Werthers zur Folge hatte. Gerade diese Situation bildete für
Goethe den konkreten Anlass, um in seinem Motto eine nachdrückliche War-
nung zu formulieren.
9.
312, 1-6 Dicht neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie
über sich selbst, sein Bewusstsein, dass er in einer historisirenden und gleichsam
dort bereits präsenten Kettenmetaphorik. Der Begriffssynthese Grillparzers gibt
N. allerdings eine stärkere negative Akzentuierung, wenn er feststellt: „Denn
da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die
Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es
ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrun-
gen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache
nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen“ (270, 9-15). - „Leidenschaf-
ten“ und „Irrthümer“ macht Grillparzer auch in seiner Studie Zur Literarge-
schichte zum Thema: Hier charakterisiert er die Geschichte als „Lehrerin des
Menschengeschlechtes“ und schreibt ihr den negativen „Nutzen“ zu, dass sie
uns „die Leidenschaften, die Irrthümer“ in der Welt vorführt, um zugleich vor
ihnen zu warnen (Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 156). Vgl. auch
NK 270, 9-15.
Goethe hatte seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (in der
zweiten Ausgabe von 1775) ein Motto vorangestellt, um die Leser vor einer nai-
ven Überidentifikation mit dem Protagonisten zu warnen, vor allem vor der
Nachahmung seines Suizids:
„Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;
Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:
Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“
Damit kehrte Goethe in seinem Werther-Roman zugleich ein Jesus-Wort um,
das ausdrücklich zur Nachfolge auffordert und sich in mehreren der biblischen
Evangelien belegen lässt (vgl. Matthäus 4; Markus 1, 17; Johannes 1, 43; 21, 19;
21, 21). - Bezeichnenderweise wählte Goethe dieses Motto gerade für das zweite
Buch seines Briefromans, in dem sich der Gemütszustand Werthers zusehends
melancholisch verdüstert, bis er sich am Ende mit einer Pistole erschießt. Bei
den zeitgenössischen Lesern hatte Goethes erster Roman in der Epoche der
Empfindsamkeit und des Sturm und Drang eine gigantische Resonanz gefun-
den und eine regelrechte Werther-Mode ausgelöst, die sogar zahlreiche Suizide
nach dem Vorbild Werthers zur Folge hatte. Gerade diese Situation bildete für
Goethe den konkreten Anlass, um in seinem Motto eine nachdrückliche War-
nung zu formulieren.
9.
312, 1-6 Dicht neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie
über sich selbst, sein Bewusstsein, dass er in einer historisirenden und gleichsam