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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0591
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 326-327 565

Ebenfalls im Kontext von UB I DS notiert N.: „Strauss als Bekenner über die
Philistercultur“ und „Als Schriftsteller (legt selbst Zeugniss von der Philister-
cultur ab)“ (NL 1873, TI [59], KSA 7, 604). In einem weiteren konzeptionellen
Entwurf heißt es: „Der siegreiche Bildungsphilister. Seine Genesis“ (NL 1873,
TI [61], KSA 7, 605).
N.s Freund Erwin Rohde schrieb in einem Brief vom 11. Dezember 1870:
„In solchen Professorengesellschaften [...] herrscht doch wahrlich ein gar zu
traurig gewöhnlicher Ton: Politik, Klatsch, Bücherbekritteln [...] Im Grunde er-
staune ich noch fortwährend über dieses gelehrten Philisterthums gespreizte
Nichtigkeit“ (KGB II2, Nr. 138, S. 280). Hier sind Affinitäten zu UB I DS festzu-
stellen, wo N. den ,Bildungsphilister4 so beschreibt: „Er fühlt sich, bei diesem
Mangel jeder Selbsterkenntniss, fest überzeugt, dass seine ,Bildung4 gerade der
satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei“, ja er glaubt sogar selbst
„der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein und macht dem
entsprechend seine Forderungen und Ansprüche“ (KSA 1, 165, 18-26).
Die Vorstellung der Bildungsbeflissenheit kann durchaus auch zum älteren
Begriff des Philisters gehören, der allerdings eher den Typus eines konservati-
ven Biedermanns bezeichnet. Doch die romantische Verwendung des Begriffs
weist teilweise bereits auf den für die Gründerzeit typischen, durch Fort-
schrittsoptimismus geprägten liberalen Bürger voraus, den N. als „Bildungs-
philister“ bezeichnet. Die Vorstellung vom ,Philister4 wird für N. zur Kontrast-
folie, vor der er sein Selbstbild als Genie konstituieren kann. Damit schließt er
an die schon im Sturm und Drang verbreitete Antithese von ,Genie4 und ,Ge-
lehrtem4 an. Den Begriff , Bildungsphilister4 verwendet N. (unter Rekurs auf
UB I DS) auch in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II, um dort im
Rückblick auf seine Biographie die eigene Motivation für die Polemik gegen
David Friedrich Strauß zu erklären: „Jener zornige Ausbruch gegen die Deutsch-
thümelei, Behäbigkeit und Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David
Strauss, der Inhalt der ersten Unzeitgemässen, machte Stimmungen Luft, mit
denen ich lange vorher, als Student, inmitten deutscher Bildung und Bildungs-
philisterei gesessen hatte (ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt
viel gebrauchten und missbrauchten Wortes ,Bildungsphilister4-)44 (KSA 2, 369,
21 - 370, 4). Dass dieser Prioritätsanspruch N.s allerdings nicht berechtigt ist,
zeigen die obigen Belege.
327, 28-29 wenn es nicht Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll! -]
Ursprünglich folgten hier Darlegungen, die N. dann in der Druckversion weg-
ließ: „Was erschwerte denn durch ein ganzes Jahrzehend hindurch dem leiten-
den Staatsmann Deutschlands [Bismarck] so sehr das Regieren als die in den
deutschen Köpfen schwirrenden, angelernten, ja gleichsam angestohlenen Be-
griffe ausländischer Partei-Politik, denen keine Anschauung aus der Heimat
 
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